
Noch in der utopischen Phase des Internets (fünf Jahre vor der Wikipedia) von Brewster Kahle gegründet, verspricht das gemeinnützige Projekt, die generische Transitorik der Onlinewelt zur omnitemporalen Allverfügbarkeit ihrer verschiedenen Stadien zu erweitern – was real nicht ganz, aber in beträchtlichen Teilen gelingt. Vor allem das Tool der Wayback Machine, eine Art Digital-Pendant zu H.G. Wells’ Time Machine, ermöglichst es, vergangene Zustände bzw. aktuell unzugänglich gewordene Inhalte zu erkunden. Ende 2023 sind über 839 Mrd. Websites archiviert. Daneben werden auch Filme, Bücher, Audios u. v. a. gesammelt und zugänglich gemacht, sofern das Copyright es zulässt. Angesichts der zunehmenden Oligarchisierung des Internets und der USA ist das in San Francisco ansässige Archiv um Spiegelungen seines Datenbestands (Ende 2021 ca. 200 Petabytes) außerhalb der USA bemüht – symbolträchtig vor allem in der neuen Bibliothek von Alexandria, aber auch in Kanada und in den Niederlanden. – Johannes Ullmaier
1995 – Karl Gutzkow, Berlin – Panorama einer Residenzstadt
Von Wolfgang Rasch zusammengestellte Kompilation von journalistisch-zeitdiagnostischen Texten Gutzkows zum Berliner Leben (Schwerpunkte Literatur, Theater, Politik) aus den frühen 1830er bis 1870er-Jahren, die in der Summe ein Tableau der Stadt ergeben und dessen epochen-panoramatisches Roman-Kompendium Die Ritter vom Geiste faktual flankieren. – Johannes Ullmaier
Literatur / Quellen:
- Gutzkow, Karl: Berlin – Panorama einer Residenzstadt, Berlin: Morgenbuch 1993
1995 – Valère Novarina, La Chair de l’homme [Das Fleisch des Menschen]
Im Klappentext zur Buchausgabe beschreibt der französische Autor, Maler und Regisseur sein 526 Seiten langes Theaterstück [dt. Das Fleisch des Menschen] wie folgt: „Amygdalus, das ist der Mandelbaum: der erste, der wieder erblüht, der erste wiedergeborene Baum. Aufgebaut auf 4 Rosetten: der Rose der Namen, der Rose der Philosophen, der Rose der Flüsse, der Rose der 8, öffnet das Buch sich auf ein Mahl, bei dem die Welt gegessen wird. Neunmal vernimmt man in ihm den Walzer der Eloquenz und neunmal den Untergangstango. Es teilt sich auf in 62 Szenen und lässt 3171 Figuren auftreten; es nennt Gott 429 Mal, vertritt, dass unser Fleisch die Sprache ist, beschreibt 88 Zirkusnummern, verwendet 2587 der 6912 Verben unserer Sprache und erkennt, dass der Messias das Wort ist. Im Mittelpunkt, unter einem Mandelbaum, das Unfehlbare Kind. Geschrieben vom 7. Dezember 1991 bis zum 9. November 1994 in Marseille, in Paris, in Krakau, in Moskau, in Barcelona, in Montpellier, in Bremen, in Rom, in Parma, in Poitiers, in Wien, in Remscheid, in Porto, in Salerno, in Budapest, in Herlin, in Trécout, in Loutro, in Agios Pavlos, in Phenix und in Besançon.“ (dt. v. LV). Der Stücktext ist symptomatisch für den demiurgischen Schreibansatz von Novarina, der in Abwandlung von Wittgenstein postuliert: „Worüber man nicht sprechen kann, das muss man sagen.“ Inspiriert von Rabelais betreibt er eine freie und kraftvolle Erweiterung des Französischen mit dem Ziel, ins bislang Undenkbare vorzustoßen. Charakteristisch dafür sind seine „Rosetten“, gewaltige Aufzählungen, in denen die Zeit stillzustehen scheint. So beginnt der Text gleich mit zwölf Seiten kurzer Attentum-Imperative („‚Seht‘ sagte Hans; ‚Seid aufmerksam‘ fügte Jakob hinzu [etc.]“), gefolgt von einer 16-seitigen Aufzählung der Figuren oder Gruppen, die das Bühnenpanorama sukzessiv bevölkern („Auf die kreisförmige Bühne treten Hans Mutist, Hans Maulwürfler, […] die Träumenichtskinder [etc.]“). Das weitere Geschehen, eine Art universales Abendmahl, sprengt alle Möglichkeiten eines Theaterabends und wirkt wie ein modernes Sprachpendant zu den Wimmelbildern von Bosch und Brueghel. Szene XXXV etwa zitiert eine Folge von 311 Gottesdefinitionen quer durch die Jahrhunderte, von diversesten Vertretern der drei Schriftreligionen wie auch von Agnostikern, Schriftstellern, Chansonniers oder ganz Unbekannten; eine Regieanweisung entfesselt den Auftritt von Trapezkünstlern und benennt 88 hochseilakrobatische Figuren, die das Zirzensische des Unternehmens unterstreichen. Die letzte „Rosette“ schließt den Text (in Anspielung auf Bibelpsalm 137) mit der Frage: „Am Ufer wievieler Ströme, Flüsse, Bäche habt Ihr Euch niedergesetzt und Eure Tränen fließen lassen?“ Beantwortet wird sie mit nahezu 2000 Flussnamen fast aller Sprachen und Regionen, in denen die Geschichte, Herkunft, Geografie und das Unbewusste aller dieser Tränenflüsse sedimentiert ist, ohne auserzählt zu werden. Nach Uraufführung einer Theaterbearbeitung durch den Autor selbst am 21. Juli 1995 wird das Stück im Herbst desselben Jahres in Paris im (1860 ursprünglich als Gemäldepanorama errichteten) Théâtre du Rond-Point und auf Tournee in Cavaillon, Cherbourg, Evreux, Remscheid, Münster, Stuttgart und Saarbrücken gezeigt. Die deutsche Übersetzung der 311 Gottesdefinitionen wird 2011 vom Bayerischen Rundfunk mit 107 Stimmen als Hörspiel gesendet und erscheint 2012 als Buch. – Leopold von Verschuer
Literatur / Quellen:
- Novarina, Valère: La Chair de l’homme, Paris: P.O.L. 1995
- Novarina, Valère: 311 Gottesdefinitionen >[=Kapitel XXV aus La Chair de l’homme], Berlin: Matthes & Seitz 2012
- Fröhlich, Constanze: Poetik der Fülle. Sprechen und Erinnern im Werk Valère Novarinas, Heidelberg: Winter 2014
Weblinks:
🖙 Radioportrait BR2 (2011)
🖙 Toledo-Übersetzerjournal (2022)
1995 – Orbis Pictus Revisited
Interaktive Amsterdamer Medieninstallation zu Comenius’ didaktischem Gesamtkompendium von 1658. – Johannes Ullmaier
Weblinks:
1993 – Global Positioning Service (GPS)

Satellitengestütztes erdglobales Navigationssystem der USA, das Lokalisationen und Bewegungssteuerungen (quasi) in Real-Time ermöglicht. Ab 1973 als Projekt vom U.S. Department of Defense konzipiert. Ein erster Prototyp startet im Jahr 1978. Die vollständige Konstellation von 24 Satelliten wird erstmals 1993 erreicht. Seither massive Ausbau-Dynamik und konkurrierende Projekte. – Stephan Klose
Weblinks:
1993 – Ausstellung Sehsucht – Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts
In der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn findet die bislang profundeste und reichhaltigste Einzelschau zur Geschichte und technischen Faktur panoramatischer Medien vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert statt. Der dazu erschienene Katalog ist bis heute das materialreichste Einzelkompendium zum Thema. – Johannes Ullmaier
Literatur / Quellen:
- Plessen, Marie-Louise von/Giersch, Ulrich (Hgg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter Stern 1993
1993 – Randy Rogel, Yakko’s World im Cartoon Animaniacs
Das Lied Yakko’s World ist ein Versuch, alle Länder der Welt aufzuzählen. Die Cartoon-Figur Yakko, der Rob Paulsen im Englischen die Stimme leiht, singt in unter zwei Minuten vier Strophen, deren Text beinahe ausschließlich aus Ländernamen besteht. Die restlichen Worte dienen primär der Einhaltung des Rhythmus, liefern jedoch stellenweise sogar kurze Informationsschnipsel zu den genannten Ländern mit – so beispielsweise der Vers „And Germany, now in one piece“, der auf die zum Veröffentlichungszeitpunkt erst kürzlich erfolgte deutsche Wiedervereinigung verweist. Das Lied stellt die Namen größtenteils nach Kontinenten geordnet vor und wird im Cartoon von Yakko anhand einer Weltkarte veranschaulicht. Problematisch ist die kaum vermeidliche Verjährung dieser medialen All-Erfassung: Alte Staaten lösen sich auf, neue entstehen. So verliert der Liedext im Laufe der Zeit (so wie zuvor schon Tom Lehrers Periodentafel-Komplett-Aufzählung The Elements) seinen panoramatischen Komplettheitsanspruch. Um dem entgegenzuwirken, wird der Text Jahre nach seinem Erscheinen von Rogel überarbeitet und eine weitere Strophe hinzugefügt. Das grundsätzliche Problem ist damit nicht beseitigt, aber aufgeschoben. Um sie weiter aktuell zu halten, muss Yakko seine Welt konstant beobachten. – Annika Bäurer
Weblinks:
1992 – Žižkov Fernsehturm in Prag

Stellvertretend für viele, teils ikonische Fernsehtürme, die Rundfunk- mit Panorama-Funktionen verbinden. Der 216 m hohe Prager Turm bietet auf verschiedenen Ebenen gleich mehrere 360°-Aussichtsgelegenheiten: ein Restaurant und eine Aussichtsplattform. – Johannes Ullmaier
Literatur / Quellen:
- Borges, Sofia (Hg.): The Tale of Tomorrow. Utopian Architecture in the Modernist Realm, Berlin: Die Gestalten 2016, S. 298 f.
Weblinks:
1990–2003 – DNA- Gesamterfassung, Human Genome Project

Das Human Genome Project (HGP) stellt ein innerhalb der Genetik bahnbrechendes Forschungsprojekt dar, welches das Ziel der erstmaligen vollständigen Sequenzierung der Basen des menschlichen Genoms verfolgt. Es verbindet biologische Forschung mit den rasanten informationstechnischen Fortschritten der Zeit, indem schier unvorstellbare Datenmengen digital und global verarbeitet, analysiert und vernetzt werden. Finanziert durch die National Institutes of Health der Vereinigten Staaten und in internationaler Kooperation mit Forschungsinstituten in Japan, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und China wird im Jahr 2003 ein Arbeitsentwurf veröffentlicht, der 92 % der Abfolge der ca. drei Milliarden Basenpaare auf den Chromosomen der menschlichen DNA enthält. Die verbleibenden Lücken sind auf die zu diesem Zeitpunkt noch beschränkten technischen Möglichkeiten zurückzuführen. Erst durch Anschlussprojekte, welche im März 2022 durchgeführt werden, erzielt man schließlich eine komplette Sequenzierung der genetischen Struktur. Durch die Errungenschaften des Projekts bricht eine neue Ära der biologischen Forschung an: „the shelf life of the scientific tool produced by the HGP is, effectively, forever.“ (Collins et al., „The Human Genome Project“, S. 286). „[I]t is simply inconceivable today that we would not have the genome at our fingertips.“ (Gibbs, „The Human Genome Project“, S. 575). – Bianka Niebling
Literatur / Quellen:
- Collins, Francis S.: „The Human Genome Project: Lessons from Large-Scale Biology“. In: Science 300 (2003), S. 286–290
- Gibbs, R.A.: „The Human Genome Project changed everything“. In: Nature Reviews Genetics 21 (2020), S. 575–576
Weblinks:
🖙 Human Genome Project, US Department of Energy
🖙 National Human Genome Research Institute
1990 – Hubble-Weltraumteleskop

Am 24. April 1990 transportiert ein Space Shuttle das 13,2 m lange und 11,1 t schwere Teleskop mit einem Durchmesser von 4,3 m in eine Umlaufbahn in 611 km Erddistanz. Da Großteleskope auf der Erde wegen der Erdatmosphäre in ihrer Bildqualität eingeschränkt sind und die Erdatmosphäre nur im optischen Bereich, in einigen schmalen Infrarotfenstern sowie in großen Teilen des Radiobereichs durchlässig ist, konkretisierte sich in der Astrophysik nach 1945 der Wunsch, Teleskope auch im Weltraum zu positionieren. Wurden die ersten, vor allem durch die Orbiting Astronomical Observatories der NASA seit den 1960er-Jahren entwickelten Satelliten- und Weltraumteleskope vorwiegend dazu eingesetzt, Objekte in Wellenbereichen zu beobachten, die nicht von der Erdoberfläche zugänglich sind, sollte das nach Edwin P. Hubble benannte Weltraumteleskop – ebenso wie sein Nachfolger, das James-Webb-Weltraumteleskop, ein gemeinsames Projekt der NASA, ESA und CSA – auch im optischen Bereich Bilder liefern. Die ersten Bilder des mit einem Spiegel von 2,4 m Durchmesser ausgestatteten Teleskops sind zunächst unscharf, weswegen über zweieinhalb Jahre hinweg ein System zur Korrektion des Spiegels entwickelt und schließlich eingebaut wird. Das Projekt Hubble Deep Field ermöglicht mittels extrem lang belichteter Aufnahmen einer Himmelsgegend die Beobachtung weit entfernter Galaxien. Seit Mitte der 1990er-Jahre bestimmen die Hubble-Aufnahmen, in zahlreichen Büchern, Filmen und TV-Dokumentationen popularisiert, für fast drei Jahrzehnte den Bildstandard der weitesten menschlichen Blicke ins All. – Kaim Bozkurt