1920 – Jewgenij Samjatin, Wir

Im Jahr 1920 verfasst und infolge der rigorosen sowjetischen Zensur erst 1924 und nur im Tamizdat publiziert, schildert der dystopische Roman des russischen Schriftstellers Jewgenij Iwanowitsch Samjatin (1884–1937) ein aus technischem Fortschritt und damit einhergehendem Machbarkeitswahn resultierendes Gesellschaftssystem des entindividualisierenden Totalitarismus. Von der Außenwelt durch eine Mauer getrennt, führen die Bewohner ein in allen, auch privaten, Belangen minutiös reglementiertes Leben als Nummern und in einheitlichen Uniformen. Sie leben in kubischen Wohnblöcken aus Glas, deren Transparenz sie allseits diszipliniert. Samjatins extrapolierende Überzeichnung der zeitgenössischen Sowjetdiktatur nimmt in der Diegese auch deren Zusammenbruch vorweg, wodurch sie zugleich zur allgemeinen Allegorie auf die panoptische Hybris des Menschen wird. Samjatins Werk inspiriert in der Folge maßgeblich heute bekanntere Dystopien wie Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells 1984 (1949). – Violetta Xynopoulou

Literatur / Quellen:

  • Leucht, Robert: Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten 1848–1930, Berlin/Boston: De Gruyter 2016
  • Samjatin, Jewgenij: Wir [1920/24], Köln: Kiepenheuer & Witsch 1958
  • Schneider, Manfred: Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche, Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 253–256

Weblinks:

🖙 Wikipedia

Schlagwörter: Allwahrnehmung, Ästhetik, Blicktransparenz, Buch, Didaktik, fiktional, Gesamtprojektion, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Organisation, Realpanoramatik, symbolisch, Technik, Text, textuell, Überwachung, Unterhaltung, Utopie/Dystopie, visuell, Zugleichspräsentation, Zugriffspräsentation

1913 – Telefon-Splitscreen in Suspense

Der Kurzfilm Suspense (USA 1913, R: Lois Weber/Phillips Smalley) gilt als frühes Beispiel für die innovative Verwendung eines Splitscreens im Film. Die filmische Form multipler Rahmung hat bildstatische Vorläufer in den Diptychen, Triptychen und Polyptychen der mittelalterlichen Tafelbildmalerei. Während der spannungsgetriebenen Erzählung des Films inszeniert dieser zwei Telefonate anhand eines dreigeteilten Bildes. Während die Ehefrau ihren Mann am Telefon um Hilfe ruft, sieht man im dritten Bild den Einbrecher an der Tür. Die Inszenierung des Telefonats im Splitscreen setzt sich bereits in den 1900er- und 1910er-Jahren im Stummfilm durch und ermöglicht die gleichzeitige Darstellung von räumlich getrennten Ereignissen. Der Splitscreen kann als Reaktion auf mediale technische Veränderungen betrachtet werden: das Telefonat (frühe Stummfilmzeit), das Fernsehen (1960er) und die Digitalisierung/das Internet (seit den 1990ern). – Kaim Bozkurt

Literatur / Quellen:

  • Hagener, Malte: „The Aesthetics of Displays: How the Split Screen Remediates Other Media“. In: Refractory. A Journal of Entertainment Media 14 (2008)

Weblinks:

🖙 Youtube: Suspense (1913)

Schlagwörter: Ästhetik, bildvisuell, fiktional, Film, Gesamtdiagramm, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medientechnik, mimetisch, Rahmenexpansion, schematisch, Technik, Unterhaltung, Zugleichspräsentation

1913 – Jahresbuchkompendium Das Jahr 1913

Kollektives Monumentalunternehmen mit dem Ziel, einen jahresbezogenen Gesamtüberblick zur kulturellen Entwicklungslage des Wilhelminischen Deutschlands quer durch alle Wissens- und Lebenssphären zeitgleich zu erstellen. Als über 500-seitiger großformatiger Sammelband aus themenbezogenen Einzelbeiträgen teils namhafter Autoren kumuliert, erscheint das im Impressum auf 1913 datierte Buch de facto 1914. Obschon laut Vorwort auch fürs Folgejahr geplant, bleibt diese Form von eigenpanoramatischer Epochengegenwartsschau infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ein singulärer Fall. – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Sarason, David (Hg.): Das Jahr 1913 [1914], Leipzig/Berlin: B. G. Teubner 1913
  • Hübinger, Gangolf: „Das Jahr 1913 in Geschichte und Gegenwart. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt“. In: Das Internationale Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 38 (2013), H. 1, S. 172–190, S. 178–188
Schlagwörter: Buch, Denkmal, Didaktik, faktual, Gesamtarchiv, Gesamtkompendium, Inhaltspanoramatik, Laufpräsentation, offen, Organisation, panoramatische Diskursform, symbolisch, Technik, Text, textuell, Unterhaltung, Wissenschaft

1913 – Max Brod, Essay Panorama

Unter den 33 Essays der im Kurt Wolff Verlag veröffentlichten Sammlung Über die Schönheit häßlicher Bilder widmet einer sich speziell dem Panorama. Darin bezeichnet Brod die Panoramen, insbesondere das Kaiserpanorama, als Sinnbilder für das Streben der modernen Menschheit nach Überblick, Ordnung und Ganzheit, während sie zugleich die fragmentarische und widersprüchliche Natur der Wahrnehmung offenbarten. Für Brod verkörpert das Panorama die Schönheit der Distanz, die jedoch das Detail und die Nähe leicht übersehen könne. Daher bleibt für ihn fraglich, inwieweit der panoramatische Blick nicht die Tiefe des Erlebens oder die emotionale Verbindung zum Gesehenen beeinträchtige. Im Gegensatz zu Hermann Brochs und Walter Benjamins Panorama-Zugängen, die eher das Kollektive und Historische betonen, legt Brod den Fokus auf die individuelle Wahrnehmung und die daraus resultierenden Spannungen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung. Während Benjamin die Panoramen als Sinnbilder für die Phantasmagorien des Kapitals und Broch sie als Ausdruck gesellschaftlicher Dekadenz interpretiert, erkennt Brod im Kaiserpanorama die Möglichkeit einer persönlichen Reflexion über die Grenzen des Sehens. Dabei vermittelt er diesen Ansatz mit der von Karl Rosenkranz entworfenen Ästhetik des Häßlichen (1853), indem er hervorhebt, wie das Panorama auch das Nicht-Schöne und Ungeordnete sichtbar machen könne. So exemplifiziert der Text die panoramatische Methode von Brods Sammlung insgesamt, in der philosophische Reflexion und ästhetische Analyse zu einem umfassenden kulturellen Bild verwoben werden. – Felix Klopsch

Literatur / Quellen:

  • Brod, Max: Über die Schönheit häßlicher Bilder. Essays zu Kunst und Ästhetik [1913], Göttingen: Wallstein 2014, S. 64–70

Weblinks:

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Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Buch, Denkmal, Ekphrasis, faktual, fiktional, geschlossen, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medientechnik, mimetisch, Moving Panorama, Panorama-Beschreibung, Panorama-Diskurs, Panoramabild, panoramatische Diskursform, Rundband, Rundbau, Text, textuell, Unterhaltung

1912 – Borodino-Schlachten-Panorama


Zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht von Borodino schafft Franz Roubaud ein monumentales Panoramagemälde, das seit 1962 in einem eigenen Museums-Rundbau in Moskau präsentiert wird. Ausgangspunkt für die DDR-Planungen des künftigen Bauernkriegspanoramas in Bad Frankenhausen. – Johannes Ullmaier

Weblinks:

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Schlagwörter: 360°, Ästhetik, Bild, bildvisuell, Denkmal, Didaktik, faktual, Fernblick, Gemälde, Gemälderundbau, Gesamtprojektion, geschlossen, Immersion, Medialpanoramatik, mimetisch, Panoramabild, Rundband, Rundbau, Unterhaltung, Wimmelbild, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation

1909 – Robert Delaunay, , Bildserie Tour Eiffel


In einer Vielzahl variierender Anläufe versucht der französische Maler Robert Delaunay, eine bild-künstlerische 2D-Allansicht des Eiffelturms zu kreieren, die dem panoramatischen Potenzial des Sujets entspricht. Die in den Jahren 1909 bis 1912 und 1920 bis 1928 entstehenden Bilder sind dem mit seiner Frau Sonia Delaunay-Terk begründeten Orphischen Kubismus zuzuordnen und zeigen das Bauwerk stets aus mehreren Blickwinkeln zugleich. – Sarah Karsten | Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Delaunay, Robert/Apollinaire, Guillaume: Les Tours Eiffel de Robert Delaunay, Paris/Brüssel: Jacques Damase 1974

Weblinks:

🖙 Wikipedia

Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Denkmal, faktual, Gemälde, Gesamtkompendium, Gesamtprojektion, Medialpanoramatik, mimetisch, offen, panoramatische Diskursform, schematisch, Technik, Unterhaltung, Zeitensynopse, Zugleichspräsentation

1904 – Kurd Laßwitz, Die Universalbibliothek

Dialogerzählung des Physikers und Mehrwelten-Sci-Fi-Pioniers (Auf zwei Planeten, 1897), in der das vielfach präfigurierte Konzept einer Bibliothek aller kombinatorisch möglichen Bücher – hier mit bis zu 500 Seiten Umfang – durchgespielt und deren Größe als zwar endlich, doch für das reale Universum viel zu groß erkannt wird; nimmt das Kernmotiv von Jorge Luis Borges’ Bibliothek von Babel vorweg, setzt aber andere Akzente. – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Laßwitz, Kurd: „Die Universalbibliothek“ [1904]. In: Nie und Immer, hg. von Kurd Laßwitz, Lüneburg: Dieter von Reeken 2009

Weblinks:

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🖙 Wikipedia zu Laßwitz

Schlagwörter: (Aus-)Faltung, Ästhetik, Bauwerk, Buch, Didaktik, fiktional, geordnet, Gesamtarchiv, Gesamtdiagramm, Gesamtkompendium, geschlossen, Idealpanoramatik, Inhaltspanoramatik, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Organisation, schematisch, Speicher, symbolisch, Text, textuell, unbegrenzte Allheit, Unterhaltung, Utopie/Dystopie, Zugriffspräsentation

1903 – Raymond Roussel, La Vue

Die Behauptung des aus über 2000 Alexandrinern bestehenden Werks La Vue (dt. Der Anblick/Der Blick) ist, dass es die Fotografie eines Strandpanoramas beschreibt, die in der als Lupe dienenden Glaskugel eines Souvenir-Füllfederhalters eingelassen ist. Wie der Roussel-Spezialist Maximilian Gilleßen aufzeigt, werden die einzelnen Beobachtungen durch Ortsangaben und -adverbien miteinander verknüpft, ergeben also ein ideales Ganzes. Das ungefähr zur selben Zeit entstandene Stück La Seine mit seinen Hunderten von Rollen verrät ebenfalls den Ehrgeiz einer panoramatischen Erfassung. – Stefan Ripplinger

Literatur / Quellen:

  • Roussel, Raymond: Der Anblick. Das Konzert. Die Quelle, Berlin: zero sharp 2022
  • Gilleßen, Maximilian: R.R. Zur Poetik Raymond Roussels, Leipzig: Merve 2024, S. 162 f.,

176 f.

Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Buch, Ekphrasis, fiktional, Foto, Gesamtprojektion, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Mikropanoramatik, mimetisch, offen, Panorama-Beschreibung, panoramatische Erzählung, symbolisch, Text, textuell, Unterhaltung, Zugleichspräsentation

1900 – Maréorama


Im Jahr 1900 stellt der Maler und Ingenieur Hugo d’Alési bei der Weltausstellung in Paris das Maréorama vor. Dabei begibt sich das Publikum auf das Deck einer Dampfschiffskonstruktion, welche die Wellenbewegung des Meeres imitieren und so eine halbstündige Schiffsfahrt über das Mittelmeer simulieren soll. Für die Illusion der Reise werden Leinwände, auf denen Küstenlandschaften zu sehen sind, am Publikum mechanisch vorbeigezogen und dazu Meeresgerüche versprüht. Ein Orchester unter dem Deck spielt eine eigens komponierte Begleitmusik. Der Höhepunkt ist ein mit Lichteffekten und der Mechanik der Schiffsbühne nachgestellter Sturm. Auch einen Sonnenaufgang und -untergang erleben die 1500 Zuschauer:innen, die für eine Aufführung auf dem Schiff Platz finden. Aufgrund seiner multisensorischen Ausstattung, die möglichst alle Sinne des Publikums ansprechen soll, lässt sich das Maréorama als Vorläufer des Expanded Cinema einordnen. – Johannes Noss

Literatur / Quellen:

  • Barbosa, Sonsoles Hernández: „The 1900 World’s Fair or the Attraction of the Senses. The Case of the Maréorama“. In: The Senses & Society 10 (2015), H. 1, S. 39–51, S. 39–51

Weblinks:

🖙 Wikipedia (FR)
🖙 Wikipedia

Schlagwörter: auditiv, Bauwerk, Bild, bildvisuell, Event/Performance, faktual, Fernblick, geordnet, Gesamtprojektion, haptisch, Immersion, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medieninstallation, mimetisch, Moving Panorama, Technik, Unterhaltung, Zugleichspräsentation

1900 – 360°-Filmsystem: Cinéorama

Inspiriert von den Großpanoramen der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts arbeitet der französische Filmpionier Raoul Grimoin-Sanson bereits seit 1896 am ersten zylindrischen 360°-Multikamera- und -Multiprojektoren-System: dem Cinéorama. Laut seiner Autobiografie kommt das filmische Großpanorama erstmals im Zuge der Pariser Weltausstellung am 8. Mai 1900 zur Vorführung. Die Aufnahmen dafür entstehen durch eine Konstruktion aus zehn 70 mm-Kameras, die sternförmig auf einer runden Holzplatte befestigt werden und per Handkurbel synchron gestartet werden können. Das in Europa und Nordafrika gedrehte Filmmaterial inszeniert einen Flug über Landschaften und Paris. Für die Aufführung wird unmittelbar unter dem Eiffelturm das Cinéorama-Kino als Rundbau mit 30 m Durchmesser erbaut. Zehn Projektoren, die in einem zentralen Betonzylinder mit 5 m Durchmesser fixiert sind, sollen auf die kreisrunde Leinwand des Saals von 9 m Höhe projizieren. Die Zuschauerplattform für 200 stehende Gäste befindet sich oberhalb des Projektionsraums. Um die Illusion zu intensivieren, wird sie als Ballongondel gestaltet und schwebend von der unteren Seite einer Ballonhülle überdacht. Die technische Errungenschaft des Systems wäre die Synchronisierung der Kameras und der Projektoren gewesen. Aber die aktuelle Forschung zweifelt mangels historischer Belege daran, dass es damals wirklich zu einer Vorführung des Cinéorama-360°-Filmsystems gekommen ist. Einige nachfolgende Versuche, im 20. Jahrhundert Bewegtbildpanoramen durch 360°-Dispositive zu erzeugen, orientieren sich jedoch am zylindrischen Konzept und der Idee Grimoin-Sansons. – Kaim Bozkurt

Literatur / Quellen:

  • Kiessling, Maren: „Domografie. Visuelle Narration im Fulldome“. In: CINEMA 63 (2018), S. 98–112, S. 98–112
  • Grimoin-Sanson 1897((fehlt in der Bibliografie))

Weblinks:

🖙 Wikipedia zur Circama-Tradition

Schlagwörter: 360°, Bauwerk, bildvisuell, Draufblick, Event/Performance, faktual, Film, Gesamtprojektion, Halbkugel, Immersion, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medieninstallation, mimetisch, Moving Panorama, Panoramaflug, Rahmenexpansion, Rundbau, Technik, Unterhaltung, Zugleichspräsentation