1927–1940 – Walter Benjamin, Passagenwerk

Das fragmentarisch überlieferte und postum im Rahmen einer editionsphilologischen Sichtung Rolf Tiedemanns als Passagenwerk titulierte Projekt, an dem Benjamin von 1927 bis 1940 arbeitet, begreift sich in seiner offenen, unvollendeten und letztlich wohl unvollendbaren Form als philosophische Geschichtsrekonstruktion der Pariser Urbanität des 19. Jahrhunderts. Diese versucht es in Form eines gigantischen Diskurs-Wimmelbildes in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu präsentieren – in der Hoffnung, aus der Urgeschichte des modernen Kapitalismus das katastrophische 20. Jahrhundert zu erhellen. Anstelle eines stringenten Textkorpus kompiliert Benjamin eine heterogene Materialsammlung, die in 48 Konvoluten, begleitet von zwei Exposés, diverse Text- und Bildquellen sowie Zitate und Kommentare ausbreitet. Bereits das erste Exposé – das einen Einblick in das Themenspektrum gewährt, welches sich von den Pariser Passagen über die Panoramen und Weltausstellungen bis zum Interieur und den Straßen von Paris erstreckt – postuliert, dass Text- und Stadtraum als konvergierende Konzepte zu betrachten seien. So soll die dispositorische Nachahmung der Pariser Passagenarchitektonik, die zum Flanierdurchgang durch die Konvolute respektive Auslagen und Präsentationsräume einlädt, einen gleichermaßen multiperspektivischen wie integralen Zugang zur Dialektik des 19. Jahrhunderts eröffnen. Inwieweit Benjamins panoramatische Utopie einer translinearen Textverräumlichung zur Erfassung einer historischen Totalität sich in der realen Leserezeption vermittelt, muss individuell erkundet werden. – Violetta Xynopoulou

Literatur / Quellen:

  • Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983
  • Lindner, Burkhardt: Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J. B. Metzler 2011
  • Kranz, Isabel: Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte, München: Wilhelm Fink 2011

Weblinks:

🖙 Wikipedia
🖙 Youtube

Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Buch, Denkmal, Didaktik, faktual, Gesamtkompendium, Gesamtprojektion, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Mythos/Religion, offen, Organisation, Panorama-Diskurs, panoramatische Diskursform, Rahmenexpansion, symbolisch, Text, textuell, Überbreite, Universalchronik, Unterhaltung, Utopie/Dystopie, Wissenschaft, Zugriffspräsentation

1927 – City Symphonies:, Berlin – Die Sinfonie der Großstadt


Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (D 1927, R: W. Ruttmann) ist der prominenteste Vertreter der City Symphonies. Diese Gruppe avantgardistischer Dokumentarfilme aus Europa und den USA strebt in den 1920–30er-Jahren danach, mit den Errungenschaften der filmischen Montage Querschnitte des modernen Großstadtlebens zu schaffen. Begleitet von orchestraler Musik fangen diese Filme panoramatisch das alltägliche Leben einer Stadt ein, ohne eine lineare oder figurenzentrierte Narration zu verfolgen. Stattdessen legen sie ihren Fokus auf den Rhythmus von Raum und Zeit, strukturieren nach Motiven, Situationen und Bewegungen. In Berlin – Die Sinfonie der Großstadt wird die Stadt selbst zum Protagonisten. Außer der Faszination für den Verkehr, die Dynamik, Industrie und Architektur der modernen Metropole dokumentiert der Film mit soziologischem Blick das Spektrum des urbanen Lebens. Orientiert an Tageszeiten, zeigt er diverse Arbeitsverhältnisse und Menschen verschiedener Klassen und suggeriert durch seine analogische Montage, Zeitraffer und Überblendungen eine Ähnlichkeit in deren Aktivitäten. Das Strukturprinzip des Films erzeugt den Eindruck einer umfassenden Regularität, in die sich das heterogene Leben der Stadt einordnet, als gäbe es noch einen sinnstiftenden Zusammenhang. – Kaim Bozkurt

Literatur / Quellen:

  • Cowan, Michael: Walter Ruttmann and the Cinema of Multiplicity, Amsterdam: Amsterdam University Press 2014
  • Marcus, Laura: „‚A Hymn to Movement‘: The ‚City Symphony‘ of the 1920s and 1930s“. In: Modernist Cultures 5 (2010), H. 1, S. 30–46

Weblinks:

🖙 Walter Ruttmann and the Cinema of Multiplicity (Michael Cowan)
🖙 Edinburgh University Press: ‘A Hymn to Movement’: The ‘City Symphony’ of the 1920s and 1930s (Laura Marcus)

Schlagwörter: Ästhetik, Berlin, bildvisuell, Didaktik, faktual, Film, geordnet, Gesamtprojektion, geschlossen, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Organisation, schematisch, Technik, Universalchronik, Unterhaltung

1927 – Breitwandformat: Polyvision in Abel Gance’ Napoléon


Um einen epischen Biopic-Film über Napoleon Bonaparte zu inszenieren, verwendet Regisseur Abel Gance für seinen Film Napoléon (Napoleon, FRA) ein Dreifach-Projektionsverfahren (Polyvision). Die Filmpremiere findet am 7. April in der Pariser Opéra Garnier statt, wobei jedoch noch nicht die endgültige Version vorgeführt wird. (Aufgrund des hohen technischen Aufwands wird der Film später auch häufig ohne Mehrfachprojektion gezeigt.) Die Hauptleinwand wird um zwei Nebenleinwände ergänzt, die in der Dreibildsequenz (Triptychon) des Films mit jeweils einem eigenen Projektor bespielt werden. Dazu müssen drei synchrone Kameras zu einem System verkoppelt sein, das der Ingenieur André Debrie entwickelt. Die aufgenommenen Filmbilder können so nebeneinander gereiht werden, dass durch drei synchronisierte Projektoren ein einheitliches Bild entsteht, das dreimal so breit ist wie der Academy Standard von 4:3. Dabei werden die Bilder so synchronisiert, dass sie möglichst nahtlos von einer Leinwand zur nächsten übergehen und den Eindruck eines durchgehenden Panoramas erwecken. Durch die deutlich breitere Bildfläche wird nicht nur die panoramatische Darstellung etwa einer Schlacht des Italienfeldzugs möglich, sondern auch die gleichzeitige Darstellung räumlich getrennter Ereignisse, was an Splitscreens erinnert und multiperspektivisch wirkt. Die experimentelle Kinematografie der Polyvision von Gance stellt einen avantgardistischen technischen und kreativen Vorstoß dar und erweitert die Grenzen des filmischen Bildes. Obwohl sich Polyvision als Format nie etabliert, beeinflusst es viele der folgenden Versuche, mittels überbreiter Seitenverhältnisse eine immersive und panoramatische Filmerfahrung zu erreichen, etwa das Aufnahme- und Projektionsverfahren Cinerama. – Kaim Bozkurt

Literatur / Quellen:

  • Kaplan, Nelly: Napoléon, London: British Film Institute 1994
  • Brownlow, Kevin: Napoleon. Abel Gance’s Classic Film, New York City: Alfred A. Knopf 1983
  • Cuff, Paul: „Presenting the Past: Abel Gance’s Napoléon [1927], from Live Projection to Digital Reproduction“. In: KinéTraces 2 (La Mort des Films), 2017, S. 120–142

Weblinks:

🖙 Wikipedia

Schlagwörter: (Aus-)Faltung, Ästhetik, bildvisuell, Denkmal, fiktional, Film, Gesamtprojektion, Großtableau, Immersion, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medientechnik, mimetisch, Rahmenexpansion, schematisch, Überbreite, Unterhaltung, Zugleichspräsentation

1926 – Claude Monet, Les Nymphéas


Von den 1890er-Jahren bis zu seinem Tod 1926 arbeitet der impressionistische Maler Claude Monet an überbreiten, großformatigen Seerosenbildern, für die er eine Rundum-Präsentation vorsieht. Nach dem Tod des Künstlers werden unter dem Titel Les Nymphéas acht Bilder im Musée de l’Orangerie in Paris in zwei miteinander verbundenen elliptischen Räumen installiert. Womöglich spielte Monet mit der Anordnung im Rund bewusst auf den Panorama-Hype des späten 19. Jahrhunderts an, wenngleich seine Bilder mit deren Form des Illusionismus nichts mehr gemein haben. Seine Gemälde präsentieren sich als solche (ohne Faux Terrain, mit erkennbarem Bildrand und sichtbarem Farbauftrag) und mobilisieren sowohl Blick als auch Körper. Sie bieten keinen weiten Blick in die Landschaft, sondern zeigen sich eher als farblich subtil gestaltete Flächen. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich gleichwohl eine andere Art von panoramatischem Anspruch: Der Seerosenteich erscheint im Verlauf der Tageszeiten und Lichtstimmungen als stetig wandelbar und bleibt dabei doch der gleiche – der Eindruck von Ganzheit und Gesamtheit entsteht ausgerechnet in der Inszenierung von Veränderlichkeit (in der Wahrnehmung eines menschlichen Betrachters). – Clara Wörsdörfer

Weblinks:

🖙 Musée de l’Orangerie, Paris.

Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Gemälde, Gesamtprojektion, Halbrundband, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, offen, Panoramabild, Rahmenexpansion, Schraubenband, Überbreite, Unterhaltung, Zeitensynopse, Zugleichspräsentation

1926 – Citroen/Bauhaus, Die Stadt

Simultanistische Großstadt-Wimmelbild-Collage, eine Art panoramatischer Fotokubismus; Moholy-Nagy kommentiert: „Das Erlebnis des Steinmeers wird hier ins Gigantische gesteigert.“ – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Moholy-Nagy, László: Malerei. Fotografie. Film [1924], Mainz: Florian Kupferberg 1967, S. 105

Weblinks:

🖙 Abbildung MOMA

Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, faktual, fiktional, Foto, Gesamtprojektion, Großtableau, Medialpanoramatik, mimetisch, Panoramabild, schematisch, Unterhaltung, Wimmelbild, Zugleichspräsentation

1926 – Fritz Kahn, Lebenstafeln

In den Erklärungen zur Plakat-Sammlung Das Leben des Menschen III heißt es zur Tafel „Der Mensch als Industriepalast“, dort sei „der Versuch unternommen, die wichtigsten Lebensvorgänge, die direkt nie beobachtet werden können, in Form bekannter technischer Prozesse darzustellen, um so ein Gesamtbild vom Innenleben des menschlichen Leibes vor Augen zu führen.“ Auf der Tafel „In 70 Jahren isst der Mensch 14000-mal sein Gewicht“ ist das Gesamtverzeichnis der durchschnittlich in einem Menschenleben verzehrten Nahrungsmittel nach Art und jeweiliger Menge bebildert. Die entsprechenden Lebensmittel(massen) fahren auf Güterwagons in den offenen Tunnelmund eines anthropomorphen Felsenkopfes. – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Debschitz, Uta/Debschitz, Thilo von: Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch, Wien: Springer 2009, S. 54–55 u. 99

Weblinks:

🖙 Tafel Industriepalast
🖙 Tafel Gewicht

Schlagwörter: Bild, bildvisuell, Diagramm, Didaktik, faktual, Gesamtdiagramm, Gesamtprojektion, geschlossen, Medialpanoramatik, Organisation, schematisch, Text, textuell, Unterhaltung, Zeitensynopse, Zugleichspräsentation

1925 – Gertrude Stein, The Making of Americans


Absicht des umfangreichen, von 1903 bis 1911 verfassten Texts ist eine „vollständige Beschreibung“ im Sinne von Steins Lehrer William James. Vollständig beschrieben werden hier die Amerikanerinnen und Amerikaner. Die Autorin plant mit The Long Gay Book eine vollständige Beschreibung der Menschheit, aber führt das Projekt nicht aus. – Stefan Ripplinger

Literatur / Quellen:

  • Stein, Gertrude: The Making of Americans. Geschichte vom Werdegang einer Familie, Klagenfurt: Ritter 1989

Weblinks:

🖙 Wikipdia

Schlagwörter: Ästhetik, Buch, fiktional, Gesamtkompendium, Gesamtprojektion, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, symbolisch, Text, textuell, Universalchronik, Unterhaltung

1925 – Erstes Projektionsplanetarium im Deutschen Museum/München


Nach Auftrag des Gründers des Deutschen Museums Oskar von Miller entwickelt die Jenaer Optikfirma Zeiss ein Gerät, mit dem die Bewegungen der Sonne, des Mondes, der Planeten und der Sterne gleichzeitig abgebildet werden können. Am 7. Mai 1925 geht nach 12-jähriger Entwicklungsphase das weltweit erste Projektionsplanetarium in Betrieb, das den Aufbau und die Mobilität des Sternenhimmels veranschaulicht. In der Münchner Kuppel sind zur Eröffnung 4500 Sterne zu sehen. – Maureen Seyfarth

Weblinks:

🖙 Webseite Museum

Schlagwörter: 360°, Animation, Ästhetik, Bauwerk, bildvisuell, Didaktik, faktual, Fernblick, Gesamtprojektion, Halbkugel, Immersion, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medieninstallation, Medientechnik, mimetisch, Moving Panorama, Rundbau, schematisch, Technik, Unterhaltung, Weltkarte, Wissenschaft, Zugleichspräsentation

1924 – Alexander Moszkowski, Das Panorama meines Lebens

In der Vorrede zu seiner Lebensbeschreibung entwirft der satirische Schriftsteller – passend zum Titel – ein panoramatisches Konzept von Autobiografie: „Mein Plan war, aus den Gegebenheiten meines Lebens etwas Größeres, Allgemeingültiges zu entwickeln. Es sollte ein Panorama werden, aber nicht auf einer Fläche vorübergleitend, sondern mit den optischen Möglichkeiten einer Universalschau. Wie eine silbern spiegelnde Glaskugel in einem Garten, die, für sich genommen, räumlich klein ist, aber mit ihren Reflexen weit in die Welt reicht bis ans Firmament. Hunderte von Leben würden sich dazu eignen, in dieser Weise zurecht geschliffen zu werden, um als Reflexträger des Allgemeinen, Weitgespannten zu wirken.“ – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Moszkowski, Alexander: Das Panorama meines Lebens, Berlin: F. Fontane & Co. 1925

Weblinks:

🖙 Wikipedia
🖙 Text

Schlagwörter: Ästhetik, Buch, Denkmal, Didaktik, faktual, geordnet, Gesamtkompendium, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Panorama-Diskurs, symbolisch, Text, textuell, Universalchronik, Unterhaltung, Zeitensynopse

1922 – Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit

Das für ein „Marstheater“ geschriebene Stück, dessen ungekürzte Hörspielfassung (ORF 1974) 25 h dauert, erfasst mithilfe von 1114 Rollen in einem bösen Rundumblick den moralischen Bankrott der Wiener Gesellschaft im Besonderen und Europas im Allgemeinen. – Stefan Ripplinger

Literatur / Quellen:

  • Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit: Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog [1922], Salzburg: Jung und Jung 2014

Weblinks:

🖙 Wikipedia
🖙 Text

Schlagwörter: Ästhetik, auditiv, bildvisuell, Buch, Denkmal, Didaktik, faktual, fiktional, geordnet, Gesamtkompendium, geschlossen, Großtableau, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Organisation, panoramatische Erzählung, Rahmenexpansion, symbolisch, Text, textuell, Überbreite, Universalchronik, Unterhaltung, Wimmelbild