1936 – Alan Mathison Turing, Spezielle und Universelle Turing-Maschinen

In einer im Mai 1936 bei der London Mathematical Society eingereichten und 1937 publizierten Arbeit definiert und erläutert Alan M. Turing (1912–1954) seine Idee der allgemeinen Symbole verarbeitenden Maschinen und begründet mit diesen rechnenden Maschinen („computing machines“) die bis heute darauf fußende Theorie der Berechenbarkeit („computability“). Mit diesen, ab dato nach ihm benannten speziellen Turing-Maschinen (TMn, Singular TM) und der in seinem Aufsatz detailliert beschriebenen „universal computing machine“ (dt. Universellen Turing-Maschine, UTM) sowie mit dem Einsatz eines Diagonalverfahrens, das an Georg Cantor (1845–1918) angelehnt ist (vgl. Wiener/Bonik/Hödicke, Einführung Turing-Maschinen, Kapitel 16 und 17), beweist Turing, dass das „Entscheidungsproblem“ in David Hilberts (1862–1943) formalistischem Programm zu einer mathematischen Logik keine Lösung haben kann. Hilbert hatte in den 1920er Jahren die schlichte Aussagenlogik durch einen „Funktionenkalkül“ dahingehend erweitert (Hilbert/Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, Kapitel 3), dass sie neben den logischen Grundverknüpfungen, den Variablen für Aussagen und Gegenständen auch „Funktionenvariablen“ enthält. Mit dieser Formalisierung zur „Neubegründung der Mathematik“ sollte „jede mathematische Aussage zu einer konkret aufweisbaren und streng ableitbaren Formel“ werden (Hilbert, Grundlagen der Mathematik, S. 3). Drei hauptsächliche meta-mathematische Probleme ließen sich dadurch formulieren, womit Hilbert nach der „Widerspruchsfreiheit“ und „Vollständigkeit“ solcher „Axiomensysteme“ fragen konnte. Das dritte, das „Entscheidungsproblem im Funktionenkalkül“ (Hilbert/Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, Kapitel 3, § 11) war von „grundsätzlicher Wichtigkeit“, da es die vollständige „logische Entwickelbarkeit“ der „Formeln“ aus „endlich vielen Axiomen“ garantieren sollte. Dieses Problem in Hilberts Spezifikation wäre gelöst, wenn ein Verfahren gefunden würde, das „bei einem vorgelegten logischen Ausdruck durch endlich viele Operationen die Entscheidung über die Allgemeingültigkeit bzw. Erfüllbarkeit erlaubt“. D.h., dass durch einen Formalismus abgeleitet werden kann, ob eine beliebig vorgelegte Formel eine „richtige Behauptung darstellt oder nicht“. Hilbert ging es in seiner „Beweistheorie“ darum, „das inhaltliche Schließen durch ein äußeres Handeln nach Regeln“ zu ersetzten (Hilbert, Grundlagen der Mathematik, S. 4). Acht Jahre blieb das Problem ungelöst, bis es von Turing mit seiner UTM und schon kurz vor ihm von Alonzo Church (1903–1995) mit seinem Lambda-Kalkül (1935/36) negativ entschieden wurde. Turing hat aufgezeigt, daß es kein allgemeines Verfahren gibt, um zu entscheiden, ob eine gegebene Formel 𝔄 des Funktionenkalküls K beweisbar ist, d.h., daß es keine Maschine geben kann, die, wird sie mit irgendeinem 𝔄 dieser Formeln gespeist, irgendwann sagen wird, ob 𝔄 beweisbar ist. Bereits 1931 konnte Kurt Gödel (1906–1978) mit seinem „Unvollständigkeitssatz“ nachweisen, dass Hilberts Funktionenkalkül und jedes andere widerspruchsfreie formale System, jede Logik, die mächtig genug ist, um zahlentheoretische (arithmetische) Aussagen darzustellen bzw. zu errechnen, „unvollständig“ ist (vgl. Wiener/Bonik/Hödicke, Einführung Turing-Maschinen, Kapitel 18). In diese Kategorie gehörte auch das bis dahin umfangreichste formallogische System, die Principia Mathematica von Bertrand Russell (1872–1970) und Alfred North Whitehead (1861–1947). Obwohl Hilbert, Gödel und Turing große „Zahlenklassen“ angeben konnten, die widerspruchsfrei, vollständig und auch entscheidbar waren (durch TMn berechenbar), durfte man nun nicht mehr davon ausgehen, dass eine formalistisch abgeschossene „Beweistheorie“ aus finiten Axiomen entwickelt werden konnte, die universalen Ansprüchen genügt. Und dennoch hatte Turing mit seiner UTM einen universellen Beschreibungsrahmen vorgelegt, mit dem jedes mechanische Verfahren operativ durchgeführt bzw. „simuliert“ werden konnte. Das Definieren von berechenbaren Zahlenklassen, das Finden von Beweisen für äquivalente Definitionen und die Intuition des Mathematikers waren für Turing die drei Grundlagen, um den „Umfang der berechenbaren Zahlen“ zu ermitteln. Ungewöhnlich war allerdings, wie Turing die intuitive Arbeit eines menschlichen Rechners, der mit Symbolen auf Papier (Bandfeldern) interagiert, selbst als ein physikalisches System interpretierte. Die einfachen Operationen eines Rechnenden auf einem linearen Band umfassen nur vier Aktionen: (a) Verändern des Symbols auf einem der wahrgenommenen Bandfelder; (b) verändern des Wahrnehmungsfokus auf ein benachbartes Bandfeld und zwei mögliche Veränderungen des Zustandes im Denken („state of mind“): (A) eine mögliche Veränderung von (a) zusammen mit einer möglichen Änderung des Zustandes im Denken; (B) eine mögliche Veränderung von (b) zusammen mit einer möglichen Änderung des Zustandes im Denken. Turing konstatiert, dass ein „Mann“, der gerade eine reelle Zahl berechnet, mit seinen „rechnenden Maschinen“ verglichen werden kann. Sein Gedankenspiel war: Wenn ein Rechnender auf einem Band mit Symbolen arbeitet, ist es nicht notwendig von seinem physikalischen Gedanken-Zustand („state of mind“) auszugehen. Es kann ein eindeutigeres physikalisches Gegenstück angegeben werden. Da der Rechnende seine Arbeit jederzeit unterbrechen und zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen kann, kann er einen Zettel mit Anweisungen (in irgendeiner standardisierten Form) festhalten, um an der entsprechenden Stelle später fortzufahren. Diesen Zettel mit Anweisungen können wir als Zustandsformel („state formula“) und als Gegenstück zum „state of mind“ interpretieren. Unterbricht der Rechnende nach jeder Operation seine Aktion und hält die Übergänge in einer Zustandsformel fest, so können wir aus diesen Zustandsformeln eine Maschine konstruieren (TM-Tabellen), die die gewünschte Zahl berechnet. Turings ingeniöse Idee war, dass konstruierte – wie auch immer im Denken hervorgebrachte – Verfahren, beispielsweise zur Berechnung reeller Zahlen, in seine elementar-operativen Maschinen transformierbar (formalisierbar) sind. Der Gedanke war neu und lenkte den Aspekt der mathematischen „Beweistheorie“ auf die generelleren Fragen nach der Art der Interaktion physikalischer Symbol-Systeme. Zusammen mit der auch von Church zum Ausdruck gebrachten „effektiven Rechenbarkeit“ („effective calculability“) bildete dieser Aspekt die Grundlage für die Church-Turing-These: Jedes effektive Verfahren kann als Tabelle einer TM beschrieben werden (vgl. Wiener/Bonik/Hödicke, Einführung Turing-Maschinen, Kapitel 11). Wiener fügte noch hinzu, „aber nur was klar verstanden ist, kann formalisiert werden (oder ist es eben schon, je nach Redeweise)“ (1990: 109). Turing hatte im Anhang seiner Arbeit einen Beweis der Äquivalenz zwischen seiner „Berechenbarkeit“ (durch TMn) und Churchs „effektiver Rechenbarkeit“ im Lambda-Kalkül geliefert. Und es fanden sich weitere, unabhängig davon entwickelte äquivalente Verfahren, z.B. die Normal-Systeme (Emil L. Post, 1897–1954) und die Normalalgorithmen (A. A. Markow, 1903–1979), was die Hypothese bekräftigten konnte, dass kein effektives Verfahren, kein algorithmischer Prozess oder arithmetischer Formalismus denkbar ist, der in Bezug auf die „Berechenbarkeit“ im Universum der reellen Zahlen mächtiger wäre als die Turing-Maschine. Aber die nach Turings Forderung „einfachen Operationen“, die so elementar sein müssen, „dass es schwer fallen sollte, sie noch weiter zu zerlegen“, durften, trotz der getroffenen Einschränkungen in ihren Freiheitsgraden, nicht den universellen Charakter und die Mächtigkeit in ihrer Berechenbarkeit verlieren. Denn die Turing-Maschinen (TMn) operieren, in Anlehnung an die beschriebenen Aktionen des Rechnenden, in diskreten Schritten. Jede zu betrachtende spezielle Maschine wird von einem eindimensionalen Band („tape“) versorgt, das durch sie hindurchläuft und in einzelne Felder („squares“) aufgeteilt ist, von denen jedes ein Zeichen („symbol“) tragen kann. An dieser Schnittstelle findet die Interaktion mit der Umgebung statt. Und da zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur ein einzelnes Feld „abgetastet“ werden kann und nur ein Zeichen „gescannt“ werden kann – wenn sich auf dem Feld ein Zeichen befindet – so arbeitet die Maschine in ihrer Abfolge auch sequenziell. Alle Zustände („configurations“) der Maschine – es sind nur endlich viele zugelassen – und das durch sie eindeutig bestimmte Verhalten („behaviour“), aufgrund dessen ihre Arbeitsweise auch als deterministisch bezeichnet wird, können umfassend in einer TM-Tabelle („table“) festgehalten werden. In jeder Zeile der TM-Tabelle steht in geordneter Abfolge an erster Stelle die Zustandsnummer, gefolgt von dem möglichen Zeichen, das auf dem Band gelesen werden kann. Dieses Argumenten-Paar determiniert – wenn das entsprechende Zeichen gescannt wurde – das weitere Verhalten, die drei möglichen Operationen der Maschine. So steht an dritter Stelle das Zeichen, das – nach dem eventuellen Löschen des vorgefundenen Zeichens – auf das Band zurückgeschrieben werden soll, gefolgt von der eventuellen Bewegungsanweisung für die Maschine, die um ein Bandfeld nach rechts („R“) oder links („L“) gehen kann. An fünfter und letzter Stelle in jeder Zeile steht die Nummer des Folgezustandes, d.h. die Zeilennummer der Tabelle, in die nach Ausführung der Operationen gesprungen werden soll. Steht dort z.B. die gleiche Nummer wie an der ersten Stelle der Zeile, so verbleibt die Maschine im nämlichen Zustand bis sie das nächste Zeichen scannt und mit dem aktuellen Zustand kombiniert. Steht an letzter Stelle als Folgezustand eine Null, so bleibt die Maschine in einem „Selbst-Stopp“ auf dem Band stehen. Die größere Mächtigkeit der TMn gegenüber finiten Maschinen ergibt sich aus dem Nach-rechts- und Nach-links-Gehen. Mithilfe dieser Bewegungen kann die TM Zeichen lesen und weiterverwerten, die sie selbst auf das Band geschrieben hat (vgl. Wiener/Bonik/Hödicke, Einführung Turing-Maschinen, Kapitel 1 und 2).

Zur Universellen Turing-Maschine (UTM): Ist erst einmal eine Konvention zur Beschreibung des Verhaltens einer TM in den TM-Tabellen festgelegt, so lassen sich die einzelnen Operationen der TM, Zug um Zug auf einem Band (einer „Zeichenkette“, ZK), den gesamten „Lauf“ über bis zu ihrem eventuellen Selbst-Stopp mit einfachsten Mitteln (Bleistift und Papier) nachvollziehen. Und da dieses „Imitieren“ eines Laufs für jede beliebige TM (aus der potenziell unendlichen Menge der TMn) auf jeder beliebigen ZK (aus der potenziell unendlichen Menge der ZKn) ein effektives Verfahren ist, so lässt es sich auch als UTM formalisieren. „Allgemeine Gültigkeit der Church-Turing-These vorausgesetzt, existiert also eine TM, die dieses Verfahren verkörpert“ (Wiener/Bonik/Hödicke, Einführung Turing-Maschinen, Kapitel 12). Turing beschreibt nun in seinem Aufsatz eine spezielle TM, die genau dieses Verfahren der UTM verkörpert. Es ist nicht schwer, sich eine praktische Umsetzung dieser UTM vorzustellen: Schreibe eine beliebige TM-Tabelle Zeile für Zeile nacheinander auf das lineare Band, damit die Zeichen der TM-Tabelle von einer UTM gelesen und verarbeitet werden können. Schreibe daneben, auf das gleiche Band, vielleicht getrennt durch ein Zeichen als Marker, die Zeichenkette, auf der die nun linear angeordnete TM-Tabelle rechnen soll. Und zuletzt „programmiere“ in einer weiteren TM-Tabelle die Zustände und Operationen, die notwendig sind, um die auf dem linearen Band befindliche TM-Tabelle auf die neben ihr auf dem Band befindliche ZK anzuwenden. Man kann sich die Programmierung der UTM auch in Turings Gedankenspiel vorstellen. D.h., da du bereits weißt, wie du die TM-Tabelle – nun auf dem Band linear angeordnet – auf die danebenstehende ZK anzuwenden hast, so halte bei jeder deiner Operationen inne und notiere deine Schritte verallgemeinernd in einer TM-Tabelle, das Resultat ist eine UTM. Der große Vorteil der UTM als Werkzeug zur Untersuchung von Gegenstandsbereichen, beispielsweise in der Zahlentheorie, ist nun, dass eine bestimmte TM oder ganze Klassen bzw. Mengen von TMn, die auf Mengen von ZKn arbeiten, thematisiert werden können. In diesem Zusammenhang wird auch das bekannte „Halteproblem“ für TMn sehr wichtig, also die Frage, ob eine vorgelegte TM auf einer bestimmten ZK jemals halten wird (vgl. Wiener/Bonik/Hödicke, Einführung Turing-Maschinen, Kapitel 14 und 15). Die Feststellung, dass es rekursiv (durch eine TM) aufzählbare Mengen gibt, deren Komplement nicht rekursiv aufzählbar ist – z.B. die Menge der haltenden TMn auf der Menge der ZKn – führt direkt auf den Weg zu Gödels „Unvollständigkeitssatz“ (vgl. ebd., Kapitel 17 und 18). Geht man letztlich von Wieners Bemerkung zur Church-Turing-These aus, so ist nicht nur ein klares Verständnis in einer TM-Tabelle formalisierbar, sondern auch jede klare Auffassung oder jedes effektive Verstehen bereits als Strukturierung seines Gegenstandsbereichs im Sinne einer Turing-Maschine verkörpert. So gelangt man zu Wieners Strukturdefinition: Eine Struktur einer Zeichenkette ist eine Turing-Maschine, welche diese Zeichenkette generiert oder akzeptiert (vgl. Wiener, „Form and Contenc“, S. 635 f.). Ob der „Apparat“, der dieses Verständnis hervorgebracht hat, allerdings selbst wiederum ein effektives Verfahren ist, d.h. in einer TM-Tabelle formalisiert werden kann, ist bis heute nicht geklärt. Klar scheint allerdings: Ist er es nicht, werden wir ihn, aus den dargelegten Gründen, nie klar verstehen. – Michael Schwarz

Literatur / Quellen:

  • Gödel, Kurt: „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“. In: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), H. 1, S. 173–198.
  • Hilbert, David/Ackermann, Wilhelm: Grundzüge der theoretischen Logik, Berlin: Springer 1928.
  • Hilbert, David: Die Grundlagen der Mathematik, Wiesbaden: Springer 1928.
  • Turing, Alan M.: „On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem“. In: Proceedings of the London Mathematical Society 42 (1937), H. 1, S. 230–265.
  • Wiener, Oswald: „Form and Content in Thinking Turing Machines“. In: The Universal Turing Machine, hg. von Rolf Herken, Oxford: Oxford University Press 1988, S. 631–657.
  • Wiener, Oswald: Probleme der Künstlichen Intelligenz, Berlin: Merve 1990.
  • Wiener, Oswald/Bonik, Manuel/Hödicke, Robert: Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen, Wien: Springer 1998.

Weblinks:

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🖙 Digitalisat (The University of Virginia)

Schlagwörter: (Aus-)Faltung, Diagramm, Didaktik, geordnet, Gesamtdiagramm, geschlossen, Idealpanoramatik, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, Medientechnik, offen, Organisation, schematisch, Speicher, symbolisch, Tabelle, Technik, Text, textuell, Universalchronik, Wissenschaft, Zugriffspräsentation

1935 – Mapparium


In vielem ein Nachfolger von Wyld’s Great Globe, präsentiert sich das Mapparium als dreistöckiger Glas-Globus, der auf einer 9,1 m langen Brücke von innen erkundet werden kann. Das bei Einrichtung aktuelle Kartenmaterial von Rand McNally, auf dem die geografische und politische Erdrepräsentation basiert, ist aufgrund der folgenden weltgeschichtlichen Turbulenzen rasch veraltet. Allerdings wird dessen Aktualisierung oft genug verpasst, um den ursprünglichen Stand schon 1966 zum historischen Dokument erklären (und so für immer einfrieren) zu können. – Johannes Ullmaier

Weblinks:

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Schlagwörter: 360°, Bauwerk, bildvisuell, Denkmal, Didaktik, Draufblick, faktual, Gesamtprojektion, geschlossen, Globus, Karte, Kugel, Medialpanoramatik, Organisation, Rundbau, schematisch, symbolisch, Technik, Unterhaltung, Weltkarte, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation

1935 – Walter Benjamin im Kaiserpanorama

In den postum erschienenen, 1932–1938 entstandenen Prosa-Erinnerungs-Vignetten Benjamins an seine Berliner Kindheit schildert dieser auch einen nicht datierten, aber wohl um die Jahrhundertwende erfolgten Besuch in dem damals schon im Sterben liegenden Popularmedium. Nichtsdestoweniger ermöglicht dieses dem Kind eine bewegungslos bewegte Weltreise und wird dem späteren Medientheoretiker als unmittelbare Vorstufe des Films gelten. – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Benjamin, Walter: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Berlin: Suhrkamp 2019
Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Buch, Denkmal, Didaktik, Ekphrasis, faktual, Fernblick, Foto, Gesamtdiagramm, geschlossen, Immersion, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Moving Panorama, Panorama-Beschreibung, Rundbau, symbolisch, Text, textuell, Unterhaltung

1931 – Presidio Modelo


Span. für „Modellgefängnis“; Strafanstalt nach Vorbild des Benthamschen Panopticons auf der kubanischen Insel Isla de la Juventud. Der Bau der vier runden Gebäudekomplexe mit zentralem Speisesaal beginnt 1926; am 16. September 1931 wird das 1928 eingeweihte Gefängnis praktisch in Betrieb genommen. – Gerrit Blawe

Literatur / Quellen:

  • Bentham, Jeremy: Panoptikum oder Das Kontrollhaus [1787/1791], Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 196–212

Weblinks:

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Schlagwörter: 360°, Bauwerk, Blicktransparenz, Denkmal, faktual, Gesamtprojektion, geschlossen, Organisation, Realpanoramatik, Rundband, Rundbau, Überwachung, visuell, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation, Zugriffspräsentation

1930–1932 – Kaiserpanorama-Schilderung in Hermann Brochs Die Schlafwandler

In der als dreistufiger Epochenquerschnitt multi-panoramatisch angelegten Roman-Trilogie Die Schlafwandler findet sich gegen Ende des ersten Teils 1888 – Pasenow oder die Romantik eine zur ‚man‘- bzw. ‚du‘-Form verallgemeinerte Beschreibung eines Kaiserpanorama-Besuchs. Dabei seismografiert Brochs Schilderung nicht nur die sozialen, kommerziellen und (mit Vorschein auf spätere Peepshows) blickscham-politischen Implikationen dieser Medienpraxis, sondern dokumentiert zudem fast wie in einem Wahrnehmungsprotokoll die visuelle, akustische und innerpsychische Ablauffolge – hier einer „Indien“-Reise – bis zur Schließung des Schaukreises. Neben Max Brods Panorama-Abgesang von 1913, Walter Benjamins melancholischer Rückschau aus den 1930ern und H. G. Adlers Panorama-Roman (geschrieben 1948 und von Brochs Erzähltechnik sowie dem Dialog mit diesem angeregt) das wichtigste deutschsprachige literarische Zeugnis zur Rezeptionsgeschichte dieser Medienerfahrung. – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Broch, Hermann: Die Schlafwandler. Eine Roman-Trilogie [1930/1932], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 165–169
  • Brod, Max: Über die Schönheit häßlicher Bilder. Essays zu Kunst und Ästhetik [1913], Göttingen: Wallstein 2014
  • Adler, H. G./Broch, Hermann: Zwei Schriftsteller im Exil. Briefwechsel, Göttingen: Wallstein 2004
Schlagwörter: Ästhetik, Bild, bildvisuell, Buch, Denkmal, Didaktik, Ekphrasis, fiktional, Foto, Gesamtdiagramm, geschlossen, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Moving Panorama, Panorama-Beschreibung, panoramatische Erzählung, Rundband, Rundbau, schematisch, symbolisch, Text, textuell, Unterhaltung

1927 – City Symphonies:, Berlin – Die Sinfonie der Großstadt


Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (D 1927, R: W. Ruttmann) ist der prominenteste Vertreter der City Symphonies. Diese Gruppe avantgardistischer Dokumentarfilme aus Europa und den USA strebt in den 1920–30er-Jahren danach, mit den Errungenschaften der filmischen Montage Querschnitte des modernen Großstadtlebens zu schaffen. Begleitet von orchestraler Musik fangen diese Filme panoramatisch das alltägliche Leben einer Stadt ein, ohne eine lineare oder figurenzentrierte Narration zu verfolgen. Stattdessen legen sie ihren Fokus auf den Rhythmus von Raum und Zeit, strukturieren nach Motiven, Situationen und Bewegungen. In Berlin – Die Sinfonie der Großstadt wird die Stadt selbst zum Protagonisten. Außer der Faszination für den Verkehr, die Dynamik, Industrie und Architektur der modernen Metropole dokumentiert der Film mit soziologischem Blick das Spektrum des urbanen Lebens. Orientiert an Tageszeiten, zeigt er diverse Arbeitsverhältnisse und Menschen verschiedener Klassen und suggeriert durch seine analogische Montage, Zeitraffer und Überblendungen eine Ähnlichkeit in deren Aktivitäten. Das Strukturprinzip des Films erzeugt den Eindruck einer umfassenden Regularität, in die sich das heterogene Leben der Stadt einordnet, als gäbe es noch einen sinnstiftenden Zusammenhang. – Kaim Bozkurt

Literatur / Quellen:

  • Cowan, Michael: Walter Ruttmann and the Cinema of Multiplicity, Amsterdam: Amsterdam University Press 2014
  • Marcus, Laura: „‚A Hymn to Movement‘: The ‚City Symphony‘ of the 1920s and 1930s“. In: Modernist Cultures 5 (2010), H. 1, S. 30–46

Weblinks:

🖙 Walter Ruttmann and the Cinema of Multiplicity (Michael Cowan)
🖙 Edinburgh University Press: ‘A Hymn to Movement’: The ‘City Symphony’ of the 1920s and 1930s (Laura Marcus)

Schlagwörter: Ästhetik, Berlin, bildvisuell, Didaktik, faktual, Film, geordnet, Gesamtprojektion, geschlossen, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Organisation, schematisch, Technik, Universalchronik, Unterhaltung

1926 – Fritz Kahn, Lebenstafeln

In den Erklärungen zur Plakat-Sammlung Das Leben des Menschen III heißt es zur Tafel „Der Mensch als Industriepalast“, dort sei „der Versuch unternommen, die wichtigsten Lebensvorgänge, die direkt nie beobachtet werden können, in Form bekannter technischer Prozesse darzustellen, um so ein Gesamtbild vom Innenleben des menschlichen Leibes vor Augen zu führen.“ Auf der Tafel „In 70 Jahren isst der Mensch 14000-mal sein Gewicht“ ist das Gesamtverzeichnis der durchschnittlich in einem Menschenleben verzehrten Nahrungsmittel nach Art und jeweiliger Menge bebildert. Die entsprechenden Lebensmittel(massen) fahren auf Güterwagons in den offenen Tunnelmund eines anthropomorphen Felsenkopfes. – Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Debschitz, Uta/Debschitz, Thilo von: Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch, Wien: Springer 2009, S. 54–55 u. 99

Weblinks:

🖙 Tafel Industriepalast
🖙 Tafel Gewicht

Schlagwörter: Bild, bildvisuell, Diagramm, Didaktik, faktual, Gesamtdiagramm, Gesamtprojektion, geschlossen, Medialpanoramatik, Organisation, schematisch, Text, textuell, Unterhaltung, Zeitensynopse, Zugleichspräsentation

1922 – Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit

Das für ein „Marstheater“ geschriebene Stück, dessen ungekürzte Hörspielfassung (ORF 1974) 25 h dauert, erfasst mithilfe von 1114 Rollen in einem bösen Rundumblick den moralischen Bankrott der Wiener Gesellschaft im Besonderen und Europas im Allgemeinen. – Stefan Ripplinger

Literatur / Quellen:

  • Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit: Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog [1922], Salzburg: Jung und Jung 2014

Weblinks:

🖙 Wikipedia
🖙 Text

Schlagwörter: Ästhetik, auditiv, bildvisuell, Buch, Denkmal, Didaktik, faktual, fiktional, geordnet, Gesamtkompendium, geschlossen, Großtableau, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Organisation, panoramatische Erzählung, Rahmenexpansion, symbolisch, Text, textuell, Überbreite, Universalchronik, Unterhaltung, Wimmelbild

1913 – Max Brod, Essay Panorama

Unter den 33 Essays der im Kurt Wolff Verlag veröffentlichten Sammlung Über die Schönheit häßlicher Bilder widmet einer sich speziell dem Panorama. Darin bezeichnet Brod die Panoramen, insbesondere das Kaiserpanorama, als Sinnbilder für das Streben der modernen Menschheit nach Überblick, Ordnung und Ganzheit, während sie zugleich die fragmentarische und widersprüchliche Natur der Wahrnehmung offenbarten. Für Brod verkörpert das Panorama die Schönheit der Distanz, die jedoch das Detail und die Nähe leicht übersehen könne. Daher bleibt für ihn fraglich, inwieweit der panoramatische Blick nicht die Tiefe des Erlebens oder die emotionale Verbindung zum Gesehenen beeinträchtige. Im Gegensatz zu Hermann Brochs und Walter Benjamins Panorama-Zugängen, die eher das Kollektive und Historische betonen, legt Brod den Fokus auf die individuelle Wahrnehmung und die daraus resultierenden Spannungen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung. Während Benjamin die Panoramen als Sinnbilder für die Phantasmagorien des Kapitals und Broch sie als Ausdruck gesellschaftlicher Dekadenz interpretiert, erkennt Brod im Kaiserpanorama die Möglichkeit einer persönlichen Reflexion über die Grenzen des Sehens. Dabei vermittelt er diesen Ansatz mit der von Karl Rosenkranz entworfenen Ästhetik des Häßlichen (1853), indem er hervorhebt, wie das Panorama auch das Nicht-Schöne und Ungeordnete sichtbar machen könne. So exemplifiziert der Text die panoramatische Methode von Brods Sammlung insgesamt, in der philosophische Reflexion und ästhetische Analyse zu einem umfassenden kulturellen Bild verwoben werden. – Felix Klopsch

Literatur / Quellen:

  • Brod, Max: Über die Schönheit häßlicher Bilder. Essays zu Kunst und Ästhetik [1913], Göttingen: Wallstein 2014, S. 64–70

Weblinks:

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