Unter dem Titel Texte aus drei Jahrtausenden kuratiert Ludwig Marcuse (1894–1971) ab 1959 im Bayerischen Rundfunk eine wöchentliche Sendereihe. Auf deren Basis veröffentlicht Gerhard Szczesny sechs Jahre nach dessen Ableben eine dreibändige Textauswahl mit dem neuen Titel Panorama europäischen Geistes (und dem alten Titel als Untertitel), die in chronologischer Reihenfolge auf ca. 1200 Seiten 122 Ausschnitte aus Kerntexten berühmter Figuren der Geistesgeschichte darbietet: Bd 1: Von Diogenes bis Plotin, Bd. 2: Von Augustinus bis Hegel, und Bd. 3: Von Karl Marx bis Thomas Mann. Damit wird der Versuch unternommen, der Leserschaft eine möglichst weitgespannte, aber zugleich begrenzte Vorauswahl der bedeutungsvollsten Schriften und Autoren zu bieten. Der (nirgends näher erläuterte) ‚Panorama‘-Titel beansprucht hier ausdrücklich nicht, eine allumfassende Darstellung des „europäischen Geistes“ zu liefern. Vielmehr soll das Kompendium laut Szczesnys kurzer „Vorbemerkung“ (vgl. Marcuse, Panorama, Bd. 1, S. 9–13) eine niedrigschwellige Möglichkeit zur ersten Lektüre schaffen, die der Leser im Anschluss selbstständig vertiefen kann. Beginnend mit dem Buch Hiob bis hin zu Thomas Manns Bruder Hitler wird jeder Textausschnitt von einer kurzen Kontext/Autor/Werk-Charakteristik aus Marcuses Feder eingeführt. Indem sie dessen universalen Geist ebenso wie seinen grundsätzlichem Pessimismus wiederspiegelt, möchte die Sammlung veranschaulichen, dass die Menschheit sich seit Anbeginn in der Literatur, der Wissenschaft und der Philosophie unentwegt darin versucht, „immer wieder die gleichen letzten, vorletzten und vorvorletzten Fragen zu lösen“ (S. 10).
Darüberhinaus reflektiert Szczesny auch die buchmediale Grenzstellung des Kompendiums zwischen einem zugriffspanoramatischen Zugang frei flanierenden Herumschmökerns einerseits und der im Doppelsinn erschöpfenden, dafür aber die volle Breite und Tiefe ausschöpfenden laufpanoramatischen Gesamterschließung: „Im allgemeinen wird man dem Leser eines so umfangreichen Breviers mit Recht empfehlen, nicht Seite für Seite zu studieren, sondern nach Lust und Laune darin zu blättern. Wer es sich zeitlich leisten kann, sollte die drei Bände aber auch einmal als ganze und in einem Zug zu lesen versuchen. Es wird sich ihm dann eine ebenso spannende wie bewegende Szenerie öffnen. […] Wenn man auf solche Weise einen Teil der aktenkundig gewordenen Geschichte des homo sapiens an sich vorüberziehen lässt, stellen sich zwei Erlebnisse ein: Die Erfahrung der tatsächlich überwältigenden Vielfalt menschlichen Denkens und Trachtens und des Erlebnisses des Eingebettetseins der eigenen, sehr peripheren und verlorenen Existenz in diesen sich in ferner Vergangenheit verlierenden Strom von Menschen und Schicksalen, Träumen und Alpträumen, geglückten und gescheiterten Unternehmungen.“ (Bd. 1, S. 12/13) – Niclas Stahlhofen / Johannes Ullmaier
Literatur / Quellen:
- Marcuse, Ludwig: Ein Panorama europäischen Geistes. Texte aus drei Jahrtausenden, Zürich: Diogenes 1977.