Der Film besteht aus langsamen Rundschwenks durch das Zimmer einer jungen Frau – wobei die Kamera zweimal die Richtung wechselt – und mag in Verbindung gebracht werden mit Virginia Woolfs A Room of One’s Own (1929). – Stefan Ripplinger
1970 – Karlheinz Stockhausen, Kugelauditorium
Aus Golo Föllmers Erläuterungstext: „Für die Weltausstellung in Osaka im Jahr 1970 baute Deutschland nach künstlerischen Vorstellungen von Karlheinz Stockhausen und einem audiotechnischen Konzept des Elektronischen Studios der TU Berlin den weltweit ersten und bislang einzigartigen kugelförmigen Konzertsaal. Das Publikum saß auf einem schalldurchlässigen Gitterrost etwas unterhalb der Kugelmitte, 50 ringsherum angeordnete Lautsprechergruppen gaben elektroakustische Raumkompositionen […] vollständig dreidimensional wieder. […] Stockhausen gab mit einem hochkarätigen 19-köpfigen Ensemble während der 180-tägigen Ausstellung Live-Konzerte für über eine Million Besucher. […] Die Raumverteilung konnte live anhand einer in Berlin gebauten Sensorkugel auf die 50 Schallquellen gesteuert werden.“ – Johannes Ullmaier
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1969 – Weltzeituhr am Berliner Alexanderplatz

Zehn Meter hoher Eckzylinder, dessen 24 Rechteck-Kanten je eine Zeitzone repräsentieren und jeweils darin liegende Städte aller Kontinente – insgesamt 146 (Stand 2023) – anzeigen. Innerhalb des Zylinders rotiert als eigentliche Uhranzeige ein Ring, der das Wandern der Stunden(zahlen) durch die Zeitzonen darstellt, sodass jederzeit abzulesen ist, wie spät es auf der Erde wo gerade ist. Darüber ist zudem ein beschleunigt rotierendes Planetarium installiert. Neben dem Ostberliner Fernsehturm prominenteste DDR-Manifestation sozialistischer Welteinheits-, Zukunfts- und Technik-Utopie, bis zum Mauerfall in unvermitteltem Kontrast zu den realen Weltbereisungsmöglichkeiten der Bevölkerung; 1985 und 1997 renoviert und aktualisiert; 2023 in einer klimaaktivistischen Impulshandlung mit Sprühfarbe verunstaltet. – Johannes Ullmaier
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1969 – 360°-Schwenk bei Walter De Maria
Beim 360°-Schwenk (auch Rundumschwenk, Panoramaschwenk) dreht sich die Kamera, fest positioniert auf einem Stativ, einmal oder mehrfach um die eigene horizontale Achse. Ein exzeptionelles Beispiel ist der 27-minütige Experimentalfilm Hardcore (USA 1969) des Land-Art-Künstlers Walter De Maria. Eine Wüste wird im 360°-Schwenk vorgeführt und dabei mit kurzen Zitaten aus dem Westerngenre konfrontiert: zwei Cowboys, die sich auf ein Duell vorbereiten. Der Kontrast konstituiert die Westernfragmente als eine in die amerikanische Landschaft projizierte Illusion. Die Andeutungen einer spannungsgeladenen Aktion werden durch die Differenz zur öden Landschaft dekonstruiert. Auch Three Circles on the Desert (USA 1969) von De Maria nutzt den markanten 360°-Schwenk in einer Wüste. Während sich die Kamera dreimal um die eigene Achse dreht, entfernt sich der Künstler im Bild – zwischen zwei engen, auf die Wüste gemalte Linien, die in der Tiefe des Bildes zusammenlaufen – und ist nach der dritten Drehung verschwunden. Die Komposition lebt von dem geometrischen Gegensatz zwischen der Zirkularität des Schwenks, der den Naturraum dynamisiert, und der Linearität der Bewegung des Künstlers, die sich in der Bildtiefe verliert. Die Panoramatik von 360°-Schwenks zeichnet aus, dass die Kadrierung den Bildausschnitt limitiert: Das Panorama ergibt sich also erst sukzessiv durch die Seitwärtsdrehung. In diesem Sinn wirken die Wüstenlandschaften in De Marias Filmen wie ein Panoramabild, das durch den Bildrahmen gezogen wird, und gleichen somit einem Moving Panorama. – Johannes Noss
Literatur / Quellen:
- Ehninger, Eva: „360°: Landschaftsprojektionen und ihr bildkritisches Potenzial“. In: Bildprojektionen. Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur, hg. von Lilian Haberer und Annette Urban, Bielefeld: transcript 2016, S. 271–284, S. 285–302
1968 – Augmented-Reality-Display, The Sword of Damocles
Das von Ivan Sutherland entwickelte Damoklesschwert gilt als erstes Head-Mounted-Display-System zur Darstellung einer erweiterten Realität (Augmented Reality). Das nie vollständig umgesetzte System sollte mittels eines stereoskopischen Bildschirms und zweier Kathodenstrahlröhren computergenerierte Grafiken im Drahtgittermodell räumlich darstellen. Man trägt das Gadget direkt am Kopf, so dass der Bildschirm sich unmittelbar vor den Augen befindet. Das Gerät wurde an einen an der Decke befestigten mechanischen Arm gekoppelt, um Kopfbewegungen zu erfassen und die Perspektive der Darstellung an die Blickrichtung anzupassen. Mit Apple Vision Pro hat das Unternehmen Apple2024 ein Head-Mounted-Display mit zwölf Kameras herausgebracht, welches eine erweiterte und virtuelle Realität mittels der Projektion von Software-Elementen in die reale Umgebung ermöglichen soll. – Kaim Bozkurt
Literatur / Quellen:
- Mazuryk, Tomasz/Gervautz, Michael: Virtual Reality, Wien: TU Wien, Institut für Computergraphik und Algorithmen 1996
- Sutherland, Ivan E.: „A head-mounted three dimensional display“. In: Proceedings of the December 9–11, 1968, Fall Joint Computer Conference, New York City, NY: Association for Computing Machinery 1968, S. 757–764, S. 757–764
Weblinks:
1968 – H. G. Adler, Panorama-Roman
Der österreichische Historiker und Schriftsteller H.G. Adler (1910–1988), gemeinhin vor allem als früher Dokumentarist des Theresienstädter Konzentrationslagers gewürdigt, überlebt als einziger seiner Angehörigen die deutsche Judenvernichtung. Weniger bekannt, aber (unter anderem) in panoramatischer Hinsicht signifikant ist sein autobiografischer Roman Panorama. In der Einleitung formal explizit aus der Ambivalenz der (Kaiser-)Panorama-Erfahrung von visuellem wie existenziellem Ein- und zugleich Ausgeschlossensein hergeleitet, präsentiert das Werk in zehn querschnitthaften Rundumblick-Bewegungen, die (statt Kapitel) „Bilder“ heißen, markante Lebensstationen seines Alter Egos Josef von der Kindheit bis zu den Erfahrungen im Nazi-Konzentrationslager und der Ankunft in London. – Johannes Ullmaier
Literatur / Quellen:
- Adler, H. G.: Panorama. Roman in zehn Bildern [1948/1968], Wien: Zsolnay 2010
- Filkins, Peter: H. G. Adler. A life in many worlds, Oxford: Oxford University Press 2019
- Neubauer-Petzoldt, Ruth: „Panoramatisches Erzählen in der Moderne“. In: Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne, hg. von Tim Mehigan und Alan Corkhill, Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 297–316
Weblinks:
1966 – Roundhouse, London
1846/47 als Wendehalle für Lokomotiven erbautes Rundgebäude, das 1966 zur Veranstaltungshalle umgewidmet und vor allem in der Frühzeit zum Schauplatz immersiv all-entgrenzter Psychedelic-Events wird, am prominentesten Pink Floyd- und Soft Machine-Konzerte. – Johannes Ullmaier
Weblinks:
1966 – Ed Ruscha, Every Building on the Sunset Strip
Leporello mit Fotografien des Künstlers Ed Ruscha. Das Auflagenobjekt hat in geschlossenem Zustand die Maße 17,8 × 14,3 cm, aufgeschlagen hat es eine Länge von 760,7 cm. Für die Herstellung montiert der Künstler eine Kamera mit Motor auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks und fotografiert auf diese Weise während einer Fahrt jedes einzelne Haus entlang des Sunset Strips in Los Angeles – zuerst auf der einen, dann auf der anderen Straßenseite. Die Fotos klebt er anschließend zusammen, die einzelnen Gebäude werden mit Hausnummern untertitelt. Wenn man das Leporello entfaltet, sieht man die Straßenseiten als zwei Bildstreifen, von denen einer immer auf dem Kopf steht. Mit dem Auge fährt man also zunächst eine Straßenseite ab und dreht dann das gesamte Leporello um für die Betrachtung der anderen Straßenseite. Every Building on the Sunset Strip kann als exemplarisches Objekt für die Verbindung von Panorama und Leporello sowie als Blueprint für Google Street View gelten. Im Leporello kann ein Panoramabild handhabbar gemacht werden, wobei die Kreisform nicht mehr unbedingt mittransportiert oder in einen langen Bildstreifen überführt wird. Insbesondere für panoramatische Stadtansichten bietet sich eine Überführung in das Leporello an. Dass Ruscha für sein Panoramabild viele Einzelaufnahmen zusammenmontiert hat, ist in der Panoramafotografie traditionell keine Besonderheit. – Clara Wörsdörfer
Literatur / Quellen:
- Quick, Jennifer: „Pasteup Pictures. Ed Ruscha’s Every Building on the Sunset Strip“. In: The Art Bulletin 100 (2018), H. 2, S. 125–152
Weblinks:
1965 – Oswald Wiener, Konzept des Bio-Adapters
Als Chuck Norris hörte, dass nichts ihn töten könne, spürte er nichts auf und tötete es seinerseits. (Volkswitz)
Die Vorstellung des „Bio-Adapters“ ist ein Gedankenspiel, das der österreichische Schriftsteller und Kognitionsforscher Oswald Wiener (1935–2021) 1965/1966 für den Bildhauer Walter Pichler erstmals in einem „Prospekt“ skizzierte. 1969 veröffentlichte Wiener diese technische Skizze in dem experimentellen Roman die verbesserung von mitteleuropa, roman als Schlussabschnitt und fügte davor einen philosophisch-politischen Essay unter dem titel notizen zum konzept des bio-adapters ein, der seine existenzphilosophischen und politischen Motive für diese Vorrichtung detaillierte.
Die Funktionsweise des Bio-Adapters besteht darin, Individuen eine befriedigendere Umgebung als die vorgefundene Umwelt aka Realität zu simulieren. Er tut dies mithilfe eines abgeschotteten „Anzugs“ bzw. einer Kapsel, die sämtliche, bisher von der ‚Außenwelt‘ gelieferten Sensorsignale in Echtzeit simuliert. Dabei passt sich die künstliche Peripherie immer genauer an die Bedürfnisse des ‚Insassen‘ an. Der Bio-Adapter lernt. Die Anpassung erfolgt in mehreren Lernschritten, bei denen die zuerst noch durch die Evolution gelieferte ‚Schnittstelle‘ an sämtlichen neuronalen Sinnesoberflächen (die ‚fünf Sinne‘), immer weiter in die Vorstellungswelt des Insassen verschoben wird, sodass dieser in der Endphase mit der Maschine verschmolzen ist. Der Bio-Adapter ist mehr als total immersiv. Er verschluckt seinen Insassen.
Das Ziel dieser Operation deutet Wiener zwiespältig. Einerseits soll der Bio-Adapter der „glücksanzug“ für einen „servo-narziss“ werden, der alle Bedürfnisse und, mehr noch, Bedürfnisse und Glücksgefühle, die wir uns in der herkömmlichen Realität noch nicht vorstellen können, befriedigt: „befreiung von philosophie durch technik“. Getreulich dem damaligen Trend zur Sprachphilosophie deutet Wiener „Philosophie“ sehr weitgehend. Auch die Autoritäten beruhten, wie Wiener in den vorderen Teilen der verbesserung polemisch darlegt, auf der „Sprache“, die in Form gedanklicher Systeme, „Freiheit“, „Glück“, „Ehe“ usw. als politische Ziele vorgäben, die den Staatsbürger*innen in jede Faser ihres Leibs und damit in jedem Verhalten aufoktroyiert werden.
Der Zwiespalt besteht darin, dass das Umschließen der Staatsbürger*innen in ihre Bio-Adapter eine Win-win-Situation für Individuum und Staat darstellt. Der Insasse erlebt zwar die panoramatische Kontrolle, de facto überwachen aber die dem Bio-Adapter übergeordneten Instanzen, die vor allem für die Energieversorgung des Geräts zuständig sind, ob sich seine Fortführung noch lohnt oder nicht. Die Evolution der Menschheit wird beendet, das biologische Merkmal „Denken“ schafft sich, da es ökologisch zerstörerisch wirkte, selbst ab.
Der Kerngedanke des Bio-Adapters – Spiegelung der Gedanken- und Motivwelt des Individuums in seine Außenwelt – hat eine lange Tradition. Sie verläuft von Platos Höhlengleichnis über Dantes „Übermensch“ (1307–1320), Descartes cogito ergo sum (1641), und in seiner schwarzromantisch nihilistischen Ausprägung über Baudelaires Die künstlichen Paradiese (1860) und Nietzsche (1883) bis zu Science-Fiction-Klassikern wie Jewgeni Samjatins Wir (1920), Daniel F. Galouyes Simulacron-3 (1964), Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968) bis hin zu William S. Gibsons Neuromancer (1984) u.v.m. Viele dieser literarischen Werke wurden zu einem Genre verfilmt, das mit der Matrix-Filmreihe vorerst perfektioniert scheint. Es ist ein spektakuläres Genre, das mehr als 100 Jahre bis heute dem Zeitgeist vieler ‚Nerds‘, Wissenschafts- und Kybernetikeuphoriker*innen entgegenkommt.
Zum Zeitgeist lässt sich festhalten, dass die verbesserung als Ganzes und der Bio-Adapter im Speziellen wie alle seine literarischen Vorgänger gegen die bürokratische Verwaltung der Massen gerichtet ist, in der jede individuelle Regung durch Gesetz und Psychiatrie in normativen Grenzen gehalten wird. Die Realität ist unbefriedigend, weil sie durch die Verwaltung gesteuert, von der Versicherungsmathematik ausgepolstert, kurz: bereits künstlich ist.
Selbst das Ungezügelte, der asoziale ‚Dämon‘ im Individuum ist durch Kriminalstatistiken und sozialtechnische Maßnahmen wie Knäste und Klapsen gezähmt. Dagegen opponiert der künstlich Wilde, die letztmögliche Art des Helden. Obwohl der Anschluss an den Individualismus der Romantik hier klar zutage tritt, dreht diese Art des technischen Eskapismus die Schraube der Erkenntnistheorie folgerichtig im geschlossenen Paranoia-Panorama einer 360°-Aussichtslosigkeit fest, das nur normativ am ‚asozialen Verhalten‘ definiert werden kann.
Dieses melancholische Modell wird vom Bio-Adapter sarkastisch versüsst, indem er subjektiven Individualismus und objektive Staatskontrolle zugleich optimiert. Dieser Zirkelschluss macht die Ökonomie und damit den ästhetischen Erfolg des Gedankens in Kunstkreisen aus. Ein einziger Gedanke, nämlich der, es gäbe ‚das Echte‘ im Gegensatz zu einem ‚bloß Manipulierten‘, lässt der erzählerischen Fantasie sämtliche Möglichkeiten des individuellen Dramas. Der Nihilismus nichtet, wirft dabei aber immer dieselbe Heldentragödie aus, die einzig Chuck Norris, wie im Motto angedeutet, zum Guten wenden kann (Wiener 1981). Ironisch fällt ins Auge, dass der Bio-Adapter gerade die Gedanken und Motive spiegelt, an denen die Insassen leiden. Er ist in dieser Hinsicht ‚umgekehrt buddhistisch‘ – nicht die frustrierenden Gedanken und Motive werden bekämpft, sondern die frustrierende Umwelt, die als vollkommen fremdgesteuert definiert wird.
Zur technischen Kritik: Die staatliche Verwaltung kann freilich als gigantischer Apparat zur Konditionierung durch Belohnung (Zeugnisse und Titel) und Bestrafung (Arbeitslosigkeit und Knast) verstanden werden. Doch technisch betrachtet müssen Reiz- und Feedback-Sequenzen nicht berechnet werden, da die biologische Beschränktheit des Menschen viel stärker zur Stromlinie drängt als ihre soziale Überformung.
Wie bei den meisten Utopien wird der Einfluss von (wissenschaftlichen und philosophischen) Gedanken und ihrer Umsetzung als Technik ein viel zu großer Raum gegenüber dem biologischen Substrat eingeräumt. Dies scheint verständlich, da die Verschachtelung der Organfunktionen in Säugetieren samt dem Einfluss der Umwelt aufs physiologische Substrat (z. B. Epigenetik) weit schwieriger zu verstehen ist als die erkenntnistheoretische Hybris, die sich aus der Überschätzung der Resultate und Möglichkeiten bisheriger Naturwissenschaft zwangsweise ergibt.
So wäre es technisch in einem Bio-Adaper der ersten Lernstufe (mit Stimulussimulation) schwer umsetzbar, die gesamte Sakkadenmotorik einzurechnen, die von der Aufmerksamkeit gesteuert wird. Nicht nur die Gedanken des Insassen, auch die gesamte Umwelt müsste mitsimuliert werden, der Rechen- und Energieaufwand wäre unter Umständen größer als in den natürlichen Vorgängen. Die Umwelt müsste als Stimulusfront simuliert werden, wo doch gerade die evolvierte Physiologie dies unnötig macht, weil die Aufmerksamkeit nur sparsam kleine Ausschnitte dieser Stimulusfront aufnimmt und verarbeitet (O’Regan 2011). Die internen Modelle der Welt im Insassen indes darzustellen ist nicht möglich, da es keine Messmöglichkeiten gibt, wo (noch) unbekannt ist, was genau gemessen werden soll. Der Bio-Adapter ist, so betrachtet, eine technische Fortführung des Behaviorismus von Skinner (1948).
Zur philosophischen Kritik: Im Schock der mechanistischen Welle nach Condillac (1754) und La Mettrie (1748) unter- und zugleich überschätzt die Romantik den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Technische Neuerungen sind gesellschaftlich disruptiv, das biologische Substrat des Menschen ist aber bei Weitem nicht gut genug verstanden, als dass man an der conditio humana zielgerichtet herumdoktern könnte. Bis heute leben wir in (ökologisch offenbar vorgegebenen) Horden und werden durch steinzeitliche Gefühle gelenkt, bloß verwenden diese Horden statt der Keule nunmehr den Computer. Ebendiese Manipulation des ökologischen Substrats ist aber das Ziel von Bio-Adapter und Co. Soviel zur Überschätzung. Die Unterschätzung kommt von der Utopie, dass das ‚Echte‘, die ‚natürliche Emotion‘, das ‚Gute‘, ja Werte im Allgemeinen von der Technik unberührbar seien und die Rückbesinnung auf ‚den Geist‘ die Wissenschaft in ihrer Disruption aufhalten könne.
Der Autor dieses Eintrags erlaubt sich zusätzlich den kritischen Vermerk, dass sich hinter dem Motiv der technischen Verbesserbarkeit unseres Leids eine evolutionistische Geschichtsauffassung verbirgt, der gemäß die menschliche Intelligenz objektiv definierbar und – oft implizit wie bei Wiener – als ‚höchste‘ Leistung der Evolution postuliert wird. Wissenschaftliche Kritik an dieser Auffassung wurde, wenn auch wesentlich weniger spektakulär, zeitlich parallel in der Kulturanthropologie von ökologischen Denkern wie bspw. Franz Boas (1911), Ruth Benedict (1935) oder Marshall Sahlins (2008) geäußert.
Diesen Denker*innen muss der ontologische Salto mortale des Simulationisten kindisch vorkommen, und ich merke an, dass Oswald Wiener seine verbesserung von mitteleuropa, roman in der Rückschau als Jugendwerk apostrophiert hat. Man kann auch ohne Panik die Grenzen des Freiheitsbegriffs ökonomisch und ökologisch definieren. Man muss nicht Nihilist sein, wenn der metaphysische Begriff der Totalfreiheit – und um diesen geht es in dieser panoramatischen Traditionslinie – fraglich wird.
– Thomas Raab
Literatur / Quellen:
- Baudelaire, Charles: Les paradis artificiels, opium et haschisch [1860], Paris: Éditions Flammarion 1976.
- Benedict, Ruth: Patterns of Culture, London: Routledge & K. Paul 1935.
- Boas, Franz: The Mind of Primitive Man, New York: Macmillan 1911.
- Condillac, Étienne Bonnot de: Traité des sensations [1754], Paris: Fayard 1989.
- Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie. Aus dem Italienischen von Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2012 (bes. Canto I, 70).
- Descartes, René: Meditationes de prima philosophia [1641]. Lateinisch-Deutsch. Vollständig neu übersetzt, mit einer Einleitung herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg: Felix Meiner 2008.
- Dick, Philip K.: Do Androids Dream of Electric Sheep?, New York: Doubleday 1968.
- Galouye, Daniel F.: Simulacron-3, New York: Bantam Books 1964.
- Gibson, William: Neuromancer, New York: Ace Books 1984.
- La Mettrie, Julien Offray de: Der Mensch eine Maschine / L’homme machine [1748], Leipzig: Reclam 1965.
- Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra [1883]. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, München: dtv 1980.
- O’Regan, J. Kevin: Why Red Doesn’t Sound Like a Bell, Oxford, New York: Oxford University Press 2011.
- Sahlins, Marshall: The Western Illusion of Human Nature, Chicago: Prickly Paradigm 2008.
- Samjatin, Jewgenij: Wir [1920/24], Köln: Kiepenheuer & Witsch 1958.
- Skinner, Burrhus F.: Walden Two, Indianapolis: Hackett Publishing Company 1948.
- Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa, roman, Reinbek: Rowohlt 1969.
- Wiener, Oswald: „0“. In: Berliner Hefte 17 (1981), S. 38–50.
Weblinks:
1964 – Bertrand Goldberg, Marina City

Zwillingsrundwohntürme in Chicago, bei Eröffnung die größten der Welt. Über das Konzept einer geschlossenen ‚Doppelrundstadt in der Stadt‘ hinaus in panoramatischer Hinsicht besonders durch die rekursive Pointe interessant, dass der Ausblick aus dem einen Rundbau hier fast überall den jeweils anderen, also eine gleichartige Blickplattform, einschließt, in deren Blickfeld das betrachtende Auge so im Prinzip auch selbst erscheint. Anders als im Barker-Panorama kann die damit evtl. verbundene Irritation in der Betonrealität jedoch kaum eine Illusionsstörung bewirken. – Johannes Ullmaier
Literatur / Quellen:
The Tale of Tomorrow. Utopian Architecture in the Modernist Realm, Berlin: Die Gestalten 2016>, S. 186–196 - Marjanovic, Igor: Marina City: Bertrand Goldberg’s Urban Vision, Princeton: Princeton Architectural Press 2010