ca. 1300 – Heinrich von Neustadt, Wundersäule im Apollonius von Tyrlant


Apollonius von Tyrlant ist ein deutschsprachiger mittelalterlicher Roman, der auf einer spätantiken lateinischen Vorlage beruht. Darin wird eine Wundersäule beschrieben (12871–12917; 13535f.; 13574–13576; 14299–14305), die sich in dem sagenhaften Land Crisa befindet. Die Säule ist achteckig und wird mit einem hellen Kristall oder mit einem strahlenden Diamanten verglichen. Ihre magische Fähigkeit besteht darin, dass man dort das sehen kann, woran man denkt. Der Erfassungsradius des Spiegels ist räumlich nicht begrenzt: Man kann Ereignisse und Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes sehen. Die Wundersäule zeigt aber nur das, was gerade im Moment geschieht. Das heißt, eine zeitliche Begrenzung ist vorhanden. Um in dem Spiegel das Abbild einer Person zu sehen, muss der Betrachter gezielt erfahren wollen, was diese im Moment tut. Die Wundersäule ist also sehr eng an die Gesinnungen und Absichten des Subjekts gebunden. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass kein Dritter sehen kann, was der Spiegel dem anderen zeigt. Der Zugang zur Wundersäule ist begrenzt: In den Spiegel kann nur schauen, wer die Tugendproben besteht oder magische Mittel hat, sie umzugehen. Das Land Crisa, in dem sich die Wundersäule befindet, wird als Utopie dargestellt: Es gibt dort keinen Tod und kein Leiden, sowohl Menschen als auch Verhältnisse sind beständig. Die Säule projiziert jedoch Abbilder der realen Welt, die unvollkommen und transitorisch ist. In dieser frühen Übertragungsmedienfiktion kristallisiert sich der Kontrast zwischen der beständigen Utopie und der veränderlichen Wirklichkeit. – Sofya Sinelnikova

Literatur / Quellen:

  • Störmer-Caysa, Uta: „Übersicht und Einsicht. Wundersäulen und Weltspiegel in mittelalterlichen Texten“. In: Alles im Blick. Perspektiven einer intermedialen Panoramatik, hg. von Roman Mauer, Johannes Ullmaier, und Clara Wörsdörfer, Wiesbaden: Springer 2025, S. 109–144.
  • Heinrich von Neustadt: Heinrichs von Neustadt „Apollonius von Tyrland“ nach der Gothaer Handschrift. „Gottes Zukunft“ und „Visio Philiberti“ nach der Heidelberger Handschrift, , 2. Aufl., Dublin/Zürich: Weidmann 1967.
Schlagwörter: Bauwerk, Blicktransparenz, Buch, Ekphrasis, faktual, Fernblick, fiktional, Idealpanoramatik, Konzept/Idee, Medialpanoramatik, Medieninstallation, Medientechnik, mimetisch, Mythos/Religion, offen, Rahmenexpansion, Skulptur, Technik, Text, textuell, Überwachung, Unterhaltung, Utopie/Dystopie, visuell, Zugriffspräsentation

ca. 1260–1275 – Albrecht, Weltspiegel im Jüngeren Titurel

Über das Leben und Werk des deutschen Dichters Albrecht, der den Gralsroman Jüngerer Titurel gedichtet hat, ist wenig bekannt. Man weiß aber, dass das Epos, das als Ergänzung zu Wolframs Titurel-Fragmenten entstand, ungefähr in der zweiten Hälfte des 13. Jh. geschrieben wurde. Gegen Ende des Jüngeren Titurels (Str. 6244–6247) beschreibt Albrecht einen Weltspiegel, der im Palast des legendären Priesterkönigs Johannes steht. Er befindet sich am oberen Ende einer architektonisch komplexen Säule im Zentrum des Hofes und zeigt, wer „sich irgendwo in einer der Provinzen mit Haß gegen den König stellt“ (Jüngerer Titurel, Str. 6245,2b–6246,3, in Übersetzung von Störmer-Caysa). Außerdem bildet der Spiegel nichts ab: weder Landschaft noch die Menschen, die für den Monarchen gefahrlos sind. Und sobald die Schuld des Feindes getilgt wird, verschwindet dieser wieder aus dem Spiegel. Dadurch ist er sehr eng mit der Figur des Königs verbunden, zumal dieser sich die meiste Zeit in seiner Nähe befindet. Der Weltspiegel ist in dem Sinne panoramatisch, dass sein Erfassungsradius nicht begrenzt ist: Er kann sowohl geographisch alle Provinzen überschauen als auch in den Verstand eines Menschen dringen. Seine magischen Fähigkeiten dienen aber ausschließlich der Sicherung der Macht des Priesterkönigs. Aus der Beschreibung des Spiegels entsteht eine markante Spannung zwischen dem Wahrnehmen und dem Zeigen: der Spiegel soll einen Zugriff zu den Gedanken aller Menschen in allen Provinzen haben, um zu verstehen, wer Feind ist und wer nicht. Jedoch zeigt er dem Herrscher nur das Ergebnis seiner Untersuchung, nur die Menschen, die er als Feinde klassifiziert hat. – Sofya Sinelnikova

Literatur / Quellen:

  • Störmer-Caysa, Uta: „Übersicht und Einsicht. Wundersäulen und Weltspiegel in mittelalterlichen Texten“. In: Alles im Blick. Perspektiven einer intermedialen Panoramatik, hg. von Roman Mauer, Johannes Ullmaier, und Clara Wörsdörfer, Wiesbaden: Springer 2025, S. 109–144.
  • Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Handschriften kritisch herausgegeben von Werner Wolf (Bd. 1–2) und Kurt Nyholm (Bd. 3-4), Berlin: Akademie-Verlag 1955.

Weblinks:

🖙 Albrecht (Jüngerer Titurel)

Schlagwörter: Ästhetik, Bauwerk, Blicktransparenz, Buch, Fernblick, fiktional, Konzept/Idee, Medientechnik, mimetisch, Mythos/Religion, Rundbau, symbolisch, Text, textuell, Überwachung, visuell, Wissenschaft, Zugriffspräsentation

1200–1210 – Wolfram von Eschenbach, Wundersäule im Parzival

In dem mittelhochdeutschen Epos Parzival wird eine Wundersäule beschrieben (Str. 589,1–590,16 u. 592,1–19), die wie ein Weltspiegel funktioniert. Sie befindet sich im Wunderland Terre marveille und macht sämtliche Vorgänge im Umland sichtbar. Die Säule steht nicht im Freien, sondern ist innerhalb eines überkuppelten Turms situiert, durch dessen Fenster sie Strahlen aussendet. Diese kehren zur Säule zurück und erzeugen ein dynamisches Abbild im Einklang mit der Welt, das auf der Säule sichtbar wird. Da die Strahlen einzig durch die Fenster des Turmes hinausgelangen, entstehen trotz der 360°-Anlage blinde Flecken, während die Strahlen, die durch zwei benachbarte Fenster ausgesendet werden, eine Szene wiederum nur aus unterschiedlichen Winkeln abbilden können. Das Wahrnehmen dieser mimetischen Repräsentationen unterscheidet sich deutlich vom alltäglichen Sehen, weil die Abbildungen auf der Säule von der in dem Epos erzählten Realität abweichen. Denn infolge der Überlappungen und Verzerrungen entsteht eine gewisse Diskontinuität der Darstellung. Im Unterschied zum Spiegel aus dem Eneasroman Heinrich von Veldekes ist für die Wundersäule auch ein Betrachter vorgesehen: Das Zusammenwirken von der abbildenden Säule und den wahrnehmenden Rezipienten, die je nach Vorwissen und Einstellungen das Dargebotene unterschiedlich verstehen, ist für das wolframsche Konzept sehr wichtig. Wolframs Wundersäule wurde in weiteren mittelalterlichen Texten rezipiert und gedeutet, etwa im Jüngeren Titurel sowie in Heinrich von Neustadts Apollonius von Tyrland. – Sofya Sinelnikova

Literatur / Quellen:

  • Störmer-Caysa, Uta: „Übersicht und Einsicht. Wundersäulen und Weltspiegel in mittelalterlichen Texten“. In: Alles im Blick. Perspektiven einer intermedialen Panoramatik, hg. von Roman Mauer, Johannes Ullmaier, und Clara Wörsdörfer, Wiesbaden: Springer 2025, S. 109–144.
  • Wolfram von Eschenbach: Parzival, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1994.

Weblinks:

🖙 Wikipedia

Schlagwörter: 360°, Allwahrnehmung, Buch, Draufblick, Ekphrasis, Fernblick, fiktional, geschlossen, Idealpanoramatik, Konzept/Idee, Kugel, Medialpanoramatik, Medientechnik, Mythos/Religion, Rundbau, symbolisch, Text, textuell, Überwachung, visuell, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation

1170–1188 – Heinrich von Veldeke, Weitsicht-Spiegel im Eneasroman

Der Eneasroman, der erste deutschsprachige höfische Roman, wird im 12. Jh. vom Dichter Heinrich von Veldeke als Übersetzung des französischen Roman d’Eneas verfasst. Die beiden Werke sind mittelalterliche Bearbeitungen zu Vergils Epos Aeneis, in dem die Vorgeschichte der Begründung Roms erzählt wird. Im Eneasroman (Str. 9562–9571) beschreibt Veldeke einen wunderbaren Weitsicht-Spiegel. Dieser befindet sich auf dem Grabmal der amazonischen Königin Camilla, das sie schon bei Lebzeiten bauen lässt. Veldekes Beschreibung bezieht sich auf die Priester-Johannes-Tradition: Auf dem Grabmal wird ein mehrstufiges, säulenartiges Bauwerk mit einem Spiegel am oberen Ende eingerichtet. Aus der Perspektive der Optik und der Technologie kann man sich diesen als Vollkugel oder mindestens als Konvexspiegel vorstellen, da er das Herrschaftsgebiet rundum abbildet. Die Projektion erfolgt in zwei Dimensionen: Die erste umfasst das Sichtbare, also die räumliche Umgebung, die zweite hingegen das Unsichtbare – die feindlichen Absichten der Menschen. Diese Fähigkeiten des Spiegels können auch der Verteidigung der Herrschaft dienen, allerdings nur, wenn es jemanden gibt, der in den Spiegel schaut. Doch kann sich – Veldekes Beschreibung nach – niemand in dem Bauwerk aufhalten, weil die Eingänge vermauert sind. Theoretisch ist aber ein Blick von außen möglich, wenngleich fraglich scheint, wie viel man überhaupt auf diese Weise sehen kann. Obwohl die Verteidigungsfunktion des Spiegels in Veldekes Werk also deutlich ausgewiesen ist, bleibt der Weg, sie zu benutzen, doch versperrt. Wie in anderen mittelalterlichen Weltspiegel-Fiktionen offenbart sich auch hier ein besonderer Zusammenhang zwischen Wahrnehmen und Zeigen: Der Spiegel nimmt zwar alles wahr, das kann aber niemand sehen. – Sofya Sinelnikova

Literatur / Quellen:

  • Störmer-Caysa, Uta: „Übersicht und Einsicht. Wundersäulen und Weltspiegel in mittelalterlichen Texten“. In: Alles im Blick. Perspektiven einer intermedialen Panoramatik, hg. von Roman Mauer, Johannes Ullmaier, und Clara Wörsdörfer, Wiesbaden: Springer 2025, S. 109–144.
  • Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdt. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachw. von Dieter Kartschoke, Stuttgart: Reclam 2007.

Weblinks:

🖙 Eneasroman

Schlagwörter: 360°, Allwahrnehmung, Buch, Draufblick, Ekphrasis, Fernblick, fiktional, geschlossen, Idealpanoramatik, Konzept/Idee, Kugel, Medialpanoramatik, Medientechnik, Mythos/Religion, Rundbau, symbolisch, Text, textuell, Überwachung, visuell, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation

ca. 8 – Argus in Ovids Metamorphosen

Im ersten Buch von Ovids Metamorphosen wird Argus, Sohn Arestors, als Bewacher der Io eingeführt. Sein Haupt ist von hundert Augen bedeckt, die sich abwechselnd ausruhen und Wache halten, sodass ihm nichts entgehen kann und er zum ultimativen Wächter wird. Nach seiner Ermordung durch Merkur im Auftrag Jupiters werden seine Augen laut der Metamorphose in das Gefieder des Pfaus eingesetzt. Das Pfauenaugenmotiv läuft seither durch die Kunstgeschichte, prominent etwa bei Peter Paul Rubens (1610) oder Salvador Dalí, der das Bild im Zuge der Suite Mythologie 1963/65 radiert und koloriert. – Lea Müller

Literatur / Quellen:

  • Ovid: Metamorphosen, Stuttgart: Reclam 1994, Buch I, V 568–688
  • Weblinks:

    🖙 Wikipedia

Schlagwörter: 360°, Allwahrnehmung, Ästhetik, Didaktik, fiktional, Inhaltspanoramatik, Konzept/Idee, Laufpräsentation, Medialpanoramatik, mimetisch, Mythos/Religion, Rahmenexpansion, Realpanoramatik, Text, textuell, Überbreite, Überwachung, Unterhaltung, visuell, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation

-200 – König Philipp von Makedonien besteigt den Haemus

Der makedonische König Philipp habe, so berichtet Livius in seiner römischen Universalgeschichte Ab urbe condita, den Haemus besteigen wollen, „weil er der allgemeinen Meinung Glauben beimaß, man könne dort zugleich das Pontische und Hadriatische Meer, die Donau und die Alpen sehen; und er versprach sich von dieser Übersicht für seinen Plan zu einem Römischen Kriege Winke von Entscheidung“ (Livius 40,21). Doch je höher Philipp und seine Begleiter kommen, desto weniger können sie offenbar sehen; sie geraten in immer dichteren Wald, werden zudem von Nebel überrascht, und der Weg wird so beschwerlich, „als machten sie ihn bei Nacht. Erst am dritten Tage gelangten sie auf den Gipfel. Nach ihrer Herabkunft ließen sie den gemeinen Glauben ohne allen Widerspruch; vermuthlich mehr, um einem Spotte über ihre vergebliche Reise zu entgehen, als dass sie wirklich die Meere, Gebirge und Ströme auf so entgegengesetzten Punkten zugleich von diesem einzigen Standorte hätten sehen können.“ (Livius 40,22). Somit kulminiert diese Urszene der Realpanoramatik – noch Petrarca wird sich von Livius’ Textstelle zu seiner Besteigung des Mont Ventoux inspiriert sehen – in signifikanter Bedeutungslosigkeit. Dass Philipp den bald darauffolgenden Krieg gegen die Römer verlieren würde, wer hätte es kommen sehen? – Bernd Klöckener

Literatur / Quellen:

  • Livius, Titus: Römische Geschichte, Braunschweig: Friedrich Vieweg 1821

Weblinks:

🖙 Projekt Gutenberg

Schlagwörter: faktual, Fernblick, Gesamtprojektion, Inhaltspanoramatik, Konzept/Idee, Medialpanoramatik, Naturpanorama, Organisation, Realpanoramatik, symbolisch, Text, textuell, Überwachung, visuell, Zentralblickpunkt, Zugleichspräsentation

ca. -600 – Allsicht Gottes (Altes Testament)

Der Psalm 139 handelt von der Allgegenwärtigkeit und Allsicht Gottes. „HERR, du erforschest mich und kennest mich. 2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. 3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. 4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wüsstest. 5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Als Transzendenz-Pol totaler Panoramatik birgt die –– hier egozentrisch pointierte, aber später in jede Richtung ausdifferenzierte – Idee der Allumfänglichkeit göttlicher All-Gegenwart heikle, doch zugleich produktive Paradoxien bzw. Redundanzen: Gott registriert ‚alles‘ sowohl sinnesmodal von außen („siehst alle meine Wege“) wie von innen („verstehst meine Gedanken“), „von ferne“ wie aus nächster Nähe („umgibst […] mich von allen Seiten“). Die hierin angelegte Spannung zwischen tendenziell panoptischen und tendenziell pantheistischen Zuschreibungen entfaltet sich in der weiteren Geschichte der Gottes-Konzeptionen zu faszinierender Vorstellungs- und Meinungsbreite, die sich, wenngleich zunehmend mittelbar, auch in der Mediengeschichte panoramatischer Registratur- und Präsentationsformen niederschlägt. – Lara Schüler | Johannes Ullmaier

Literatur / Quellen:

  • Katholische Bibelanstalt (Hg.): Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Freiburg im Breisgau: Herder 2016, Ps 139,1–5
Schlagwörter: Allwahrnehmung, audiovisuell, bildvisuell, Blicktransparenz, Didaktik, faktual, Fernblick, fiktional, Gesamtprojektion, haptisch, Idealpanoramatik, Inhaltspanoramatik, Konzept/Idee, Mythos/Religion, symbolisch, Text, textuell, Überwachung, unbegrenzte Allheit, Zugleichspräsentation, Zugriffspräsentation