Nach der Veröffentlichung des letzten seiner vier Romane über die eigene Kindheit und Jugend (Versuch über die Pubertät, 1974) erweitert der Autor seine Wahrnehmungs- und Schreibbewegung in mehreren großen Schritten zu einer weltausgreifenden Erkundung. Dafür setzt er auch in der eigenen Werkorganisation einen formalen Schnitt: Die neu konzipierte und dann bis zu seinem Tod im Jahr 1986 ausgearbeitete Geschichte der Empfindlichkeit ist ein über alle Gattungs- und Genregrenzen hinausweisendes, barockes, globales Megapoem, angelegt auf neunzehn Bände, von denen posthum siebzehn erschienen sind. Fichtes Versuch, Synkretismus, Bisexualität und Reisebewegung als zusammenhängende ästhetische Form und Praxis zu zeichnen, mündet in ein gigantisches ästhetisches Forschungsgeflecht, das sich quer über die Kontinente erstreckt und örtliche Gesten und Riten als meist subversive Überlebenspraxis einer vielerorts faszinierend kreativen und diversen, doch überall auch vom gewaltvollen Zusammenwirken von Kolonialismus, Patriachat und Kapitalismus geprägten Gesellschaft zusammensehen und im Kontext der sozialen Gefüge verorten will. Dabei verwendet Fichte ausgiebig das Stilmittel der Litanei, eine ursprünglich religiöse Aufzählungsroutine des Welt- und Gotteslobs, die hier oft die Funktion eines panoramatischen Umherzeigens erhält, immer verbunden mit der ästhetischen Figur des Kontrasts. Ausgangspunkt der einzelnen Bände sind – anfangs noch in Hamburg, dann aber über Portugal bis nach Afrika und Südamerika reichend – die unzähligen Reisebewegungen des Schriftstellers zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, die Fichtes Schriftgeschichte um ein – teils noch zu Fichtes Lebzeiten erschienenes – fotovisuelles Komplement (Petersilie, 1980; Xango, 1984; Psyche, 2006) erweitert. Auch die traditionellen Grenzen individueller bürgerlicher Autorschaft geraten so ins Fließen. Im selben Kosmos entstehen in Kooperation mit Peter Michel Ladiges (der selbst 20.000 Kartoffelkochrezepte aus der ganzen Welt gesammelt haben soll) zudem zahlreiche Werke für das Radio. – Kathrin Röggla
Literatur / Quellen:
- Fichte, Hubert: Versuch über die Pubertät, Frankfurt a.M.: Fischer 1974
- Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit, 17 Bde., Frankfurt a.M.: Fischer 1987
- Mau, Leonore/Fichte, Hubert: Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen IV. Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada, Frankfurt a.M.: Fischer 1980
- Fichte, Hubert/Mau, Leonore: Xango, Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer 1984
- Mau, Leonore: Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika, Frankfurt a.M.: Fischer 2005
- Mau, Leonore/Fichte, Hubert: Die Kinder Herodots. Ein Buch, Frankfurt a.M.: Fischer 2006
- Fisch, Michael: Verwörterung der Welt. Über die Bedeutung des Reisens für Leben und Werk von Hubert Fichte. Orte – Zeiten – Begriffe, Aachen: Rimbaud 2000
