1. Kontext und Konzept
- Realbasis dieser Website: ein teils akademischer, teils informeller Forschungs- und Diskussionszusammenhang
- Quellgrund: interdisziplinäre Lehrveranstaltungen von Roman Mauer, Johannes Ullmaier und Clara Wörsdörfer: „Das Panorama in Kunst und Literatur“ (WiSe 2022/23) sowie „Erzähltheorien im Medienvergleich“ (SoSe 2023) an der JGU Mainz
- 2023: Panoramatik-Tagung an der JGU
- 2025: Buchpublikation Alles im Blick. Perspektiven einer intermedialen Panoramatik
- Kernidee der hier vorgestellten Fortführung: das ‚Pan‘ in ‚Panorama‘ ernstzunehmen und fächerübergreifend zu erkunden
2. Ausgangslage: ‚Panorama‘ als Begriffsbreitwand
- „Panoramatik in intermedialer Perspektive“ – was meint das?
- Ausgangspunkt: der Begriff „Panorama“ – selbst ein weites Feld:
Bestandsaufnahme zum aktuellen Begriffsgebrauch in der Wikipedia (Stand Juni 2024). Erster Befund:
- sehr heterogen
- gebräuchlich in Kunst, Literatur, Film, Akustik, Geschichte, Technik, Geographie, Publizistik u.a.
- international verbreitet
- als Name oder Namensteil beliebt
- verbindendes Definitionskriterium jedoch schwer zu erkennen
Abhilfe zum Teil im Wiktionary (Stand Juni 2024). Dort folgende Hinweise:
- Begriffsentstehung im 18. Jahrhundert
- Auszeichnung des „Rund(um)“-Aspekts. Paradigma: Rundgemälde(bau)
- Abgrenzung von „ungenaueren“ bzw. „übertragenen“ Bedeutungen
- bei den „Synonymen“ aber auch viel ‚Nicht-Rundes‘: Gesamtansicht, Gesamtschau, Gesamtübersicht, Überblick, Zusammenfassung
- Zwischenfazit: „Panorama“-Begriff kunsthistorisch scharf umgrenzt, insgesamt jedoch diffus
- Vorschlag: Verallgemeinerung vom Panorama zur Panoramatik
3. Panoramatik als Versuch medialer All-Umfassung
- Leithypothese: Nimmt man das ‚pan‘ in ‚Panorama‘ versuchsweise beim Wort, verschiebt und verallgemeinert sich der Hauptakzent vom Runden und vom Sehen auf den All-Aspekt – womit sich ein mannigfaches Forschungsfeld eröffnet.
- Folge: Lösung von der Beschränkung des Blicks auf die Rotundenmalerei (der freilich weiterhin große Bedeutung zukommt)
- entsprechend auch Shift von der Bezeichnung ‚Panorama‘(-Forschung) hin zum bislang nicht kanonisch definierten, doch meist schon intermedial assoziierten Terminus ‚Panoramatik‘
- im Folgenden versuchsweise als Allgemeinbegriff für jede Form von Pan-Präsentation gebraucht, also des Alles-Registrieren-und-Präsentieren-(Wollen)s
4. Panoramatik als Medienpragmatik
Wie können All-Präsentationen sich realisieren?
- Arbeitshypothese: Es gibt drei Optionen:
- Zugleichs-Präsentation: ‚alles auf einmal‘
Beispiel (real): Blick vom Gipfel /
Beispiel (medial): Barkers Panorama-Patent (1787) - Lauf-Präsentation: ‚alles nacheinander‘
Beispiel (medial): Schedelsche Weltchronik (1493) - Zugriffs-Präsentation: ‚alles auf Abruf‘
Beispiel (medial): Bibliothek von Alexandria
Damit ist das Spektrum unabsehbar ausgeweitet, denn nun stehen auch Allumfassungen diesseits des „Panorama“-Wortfelds mit im Fokus, darunter etwa:
- Allschau
- Vogelperspektive
- Weitsicht
- Übersicht
- Draufblick
- Ausblick
- Fernblick
- Röntgenblick
- Weltraumperspektive
- Wimmelbild
- Panoptikum
- Totalität
- Ganzheit
- Gesamtheit
- Universum
- Weltall
- Kosmos
- Allzeit
- Ewigkeit
- Welt
- Weltbild
- Weltkarte
- Weltspiegel
- Allwissenheit
- Universalhistorie
- Polyhistorismus
- Enzyklopädie‘
- Gesamtkompendium
- Horizont(-Überschreitung)
- Totale
- Omnipotenz
- Immersion
- Cosmographie
- Synchronopse
- (Groß-)Tableau
- Surround(-Sound)
- (Gesamt-)Querschnitt
- Omniversum
- Multiversum
- allwissender Erzähler/Nullfokalisation
- Globalisierung
- Metaverse
- Big History
- unio mystica
- etc.
5. Panoramatisches Begehren
‚Hinter‘ bzw. ‚unter‘ dieser vielfältigen Dynamik panoramatischer Bestrebungen in der Kultur- und Mediengeschichte hypothetisch zu vermuten: ein panoramatisches Begehren als menschlich-allzumenschlicher Impuls
- individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt
- allgemein noch wenig untersucht
- ambivalentes Wirkungsspektrum: von praktischem und didaktischem Nutzen und/oder ästhetischem Triumph bis zu fürchterlichstem Totalitarismus
- panoramatische Totalität real nie zu erreichen
- umso wirksamer als Attraktor für approximative Vorstöße, die zwar fast immer ihre Grenzen finden und früher oder später scheitern, dabei aber oft allerhand weiterbringen oder offenbaren
6. Problemgeschichtliche Konkretisierung
Aber wie kann panoramatisches Begehren sich historisch manifesitieren? Wer sucht bzw. schafft All-Präsentationen? Und wozu jeweils?
Für die Identifikation und Analyse panoramatischer (Medien-)Manifestationen schlagen wir einen problemgeschichtlichen Zugang vor:
global – bezogen auf die Herausbildung und Entwicklung panoramatischer Impulse und Traditionen
- Leitfragen: Wie ist die panoramatische Unternehmung jeweils (medien)geschichtlich situiert? Wo liegt ihr panoramatisches Telos und wie nahe kommt sie ihm? Welche Ambivalenzen und Schranken werden dabei ggf. akut?
lokal – bezogen auf einzelne Phänomene
- Grundlegend ist die Erfahrung einer beschränkten (Medien-)Realität, die als Desiderat erlebt wird, sowie die Vision ihrer Erweiterung und Entgrenzung.
Konkret bedeutet das für die oben genannten Beispiele: - Zugleichs-Präsentation
– Desiderat (real) vor Bergbesteigung: ‚Blick hier (unten) beschränkt bzw. unfrei!‘
– Vision: ‚Vom Gipfel rundum unbegrenzt ins Weite schauen!‘ /
– Desiderat (medial) bei Barker: ‚Bildrahmen stört Illusion!‘
– Vision (gemäß Patentschrift): ‚la nature à coup d’œil‘ („die ganze Natur auf einen Blick!“) - Lauf-Präsentation
– Desiderat (medial) bei Schedel: ‚Weltgeschichte und Weltgestalt nur uneinheitlich und in Bruchstücken zugänglich!‘
– Vision: ‚Alles von der Schöpfung bis zur Apokalypse in Text und Bild in einem Werk! Auf Latein und Deutsch!‘ - Zugriffs-Präsentation
– Desiderat (medial) bei der Universalbibliothek: ‚Weltwissen verstreut!‘
– Vision: ‚Alles muss an einem Ort versammelt und dort zu finden sein!‘ - Für die Umsetzung folgt daraus, dass ein Weg gefunden werden muss, um das entsprechende Ziel zu erreichen, sichtbar bzw. überliefert meist erst manifeste Bemühungen bzw. Resultate:
- Zugleichs-Präsentation
– Weg (real) beim Berg: Aufstieg zum Gipfel
– am Ziel: ‚Diese faszinierende, weite, unumschränkte Blickfülle!‘ /
– Weg (medial) bei Barker: Bau und Innen-Bemalung eines Rundgehäuses –
– am Ziel: ‚Kein Rahmen mehr zu sehen! Mitten im Bild! Totale Illusion!‘ - Lauf-Präsentation
– Weg (medial) bei Schedel: langjährige arbeitsteilige Kompilation und Herstellung eines monumentalen Druckwerks inkl. Weltkarte und Stadtpanoramen
– am Ziel: ‚Hier alles drin!‘ - Zugriffs-Präsentation
– Weg (medial) bei der Universalbibliothek: offensive Schriftenbeschaffung und Aufbau einer monumentalen Sammlung und Registratur
– am Ziel: ‚Hier alles zu finden und (einzeln) zu bekommen!‘
7. Erste Erkundungen
Ein Versuch zur vorläufigen Einkreisung des all-präsentatorischen Forschungsfeldes liegt vor unter dem Titel „Der panoramatische Pakt. Vorschläge zu einer erweiterten Perspektive auf mediale All-Registraturen“, in: Alles im Blick. Perspektiven einer intermedialen Panoramatik. Hg. v. Roman Mauer, Johannes Ullmaier und Clara Wörsdörfer. Heidelberg u.a.: Springer 2025, S. 29-107.
Das Spektrum möglicher Erkundungen ist naturgemäß fast unbegrenzt. Im Zentrum dieser Website:
- der bereits sichtbare Überblick der Überblicke als historische Bestandsaufnahme
- die jetzt noch weitgehend verwaiste Rubrik Alles über Alles als Experimentierstube für medienstrukturbezogene Erkundungen
All das ist nur kooperativ sinnvoll zu explorieren. Wir freuen uns daher über jede Mithilfe und produktive Einrede!
